Festspiele Brecht Schauspiel
Szenische Nachdenkübung für die "normalgesunde" Welt: Simone Gisler, Robin Gilly und Tiziana Pagliaro in "Der kaukasische Kreidekreis" in der Szene Salzburg.
APA/SF/MONIKA RITTERSHAUS

Wer ist die bessere Mutter: die leibliche, aber nicht fürsorgliche, oder die liebevolle Pflegemutter? In Bertolt Brechts Stück Der kaukasische Kreidekreis, 1948 uraufgeführt, entscheidet der Richter klar für Letztere. Hat doch die biologische Mutter, eine fürstliche Witwe, nur aus erbrechtlichen Beweggründen Interesse an ihrem Sohn.

Regisseurin Helgard Haug zweifelt diese Entscheidung mit dem Zürcher Theater Hora bei den Salzburger Festspielen nun an. Vor allem aber knüpft die Inszenierung eine Reihe von weiteren Fragen an den Ausgang des Stücks, gipfelnd in der Überlegung, ob die Pflegemutter, die Magd Grusche (Simone Gisler), das Kind auch an sich genommen hätte, wenn es, so sagt es ein Schauspieler, "so ausgesehen hätte wie ich".

Die Ensemblemitglieder des Theater Hora haben Down-Syndrom bzw. kognitive Beeinträchtigungen (über die Unzulänglichkeiten solcher Begriffe informiert ein Essay im Programmheft). Damit bringen sie eine ganz andere Perspektive in die Rezeption dieses kanonisierten Brechttextes ein. In der Szene Salzburg machen die Horas nunmehr das, was sie seit dreißig Jahren und jetzt erstmals bei den Festspielen machen: Der "normalgesunden" Theaterwelt ihre Grenzen vor Augen führen.

Dabei lässt sich der knapp zweistündige Abend formal ganz brechtisch an. Er beginnt, dem epischen Theater und seinem Verfremdungseffekt entsprechend, mit einem Ansager (Remo Beuggert), der die Sachlage sowie die Spieler einzeln vorstellt. Diese Idee vertiefen die Horas, indem sie die persönliche Verbindung der einzelnen Schauspieler zu ihrer jeweiligen Rolle thematisieren. Tiziana Pagliaro identifiziert sich beispielsweise deshalb mit der Fürstin, weil sie selbst gerne Menschen herumkommandiere, sagt sie. Im Vorjahr hat sie übrigens an den Kammerspielen München Regie geführt. Robin Gilly begrüßt das Publikum mit "Servus" und sagt, dass er die ersten Probentermine versäumt habe und dann nur mehr die Kleinkindrolle übrig gewesen sei.

In acht Anläufen

Als durchmoderiertes Erzähltheater behält Der kaukasische Kreidekreis seine Spannung, wirkt dabei streckenweise zwar recht mechanisch, doch schlagen sich die Performerinnen und Performer mit ihren Darstellungen den Weg immer wieder frei. Etwa Simone Gisler als Magd Grusche, die sich ihre Hochzeitsreise in die Karibik inklusive Hochzeitsnachtsorgasmus emotional ausmalt. Auf einem rotgrün gekachelten Spielfeld werden Kreidekreise gezogen und der Mutter-Zwist in insgesamt acht Anläufen neu durchexerziert. Jeder und jede hat für die Rolle ein eigenes Gestenreservoir, das beim späteren Rollenwechsel samt Kostüm zum nächsten Spieler mitwandert.

Percussionistin Minhye Ko übertrug Paul Dessaus Musik auf Marimba-Schlagwerke, entfernte sich vom Original aber so weit, dass Sohn und Rechteinhaber Maxim Dessau um die Streichung des Komponistennamens bat. Indes begleiten ihre zackigen und doch weich dahingaloppierenden Rhythmen die Mechanik und Sprödigkeit der Inszenierung passend. Auf Bildschirmkacheln im Bühnenhintergrund akzentuieren Sätze oder entscheidende Schlagworte wie "Blutsbande" in Laufschrift den Diskurs. Und der befasst sich irgendwann mit der Überlegung, ob es denn nicht mehr als nur zwei Mutter-Optionen gibt. Könnte also nicht auch der Richter für den verantwortungsvollen Job infrage kommen oder der Sänger (hier die Percussionistin)? Oder Simon (Simon Stuber), der mit Grusche verlobte abwesende Soldat?

Schließlich wird im Kampf um das Kind auch noch eine Down-Syndrom-Barbie ausgepackt. Sie überzeugt (das Kind) nicht. Ist aber ein praktisches Instrument im Ringen um mehr Diversität, wenn auch ein kapitalistisches. Helgard Haug und die Horas legen dieser archaischen Geschichte viele Fährten in die Gegenwart. Brecht hätte das bestimmt gefallen, legt denn der Streitfall in seinem Drama viele Fragen offen - und bringt so die Köpfe hier so richtig zum Rauchen. (Margarete Affenzeller, 13.8.2023)