"Ich vergesse all meine Sorgen, wenn ich Zeit mit ihnen verbringe", sagt Amir* (38) aus dem Westen Kabuls, während er auf dem Dach seines Hauses steht und seine Tauben füttert. Rund zwei Dutzend Vögel betreut der Afghane, der tagsüber sein Geld als Fahrer verdient, hier. "Kaftarbaazi", das Züchten von Tauben, ist in Afghanistan weitverbreitet. Seltene Tiere sind besonders begehrt. Wie eine Trophäe hält Amir eine braun-weiße Taube in seinem Arm. "Die hier ist wertvoll. Doch mir geht es nicht um das Geld", sagt er, während er sie streichelt und seine kleine Tochter mit einigen anderen Vögeln herumtollt. Amirs Taubensammlung hat einen Wert von rund eintausend US-Dollar.

Die Bewegungsfreiheit von Frauen in Afghanistan wird tagtäglich stärker eingeschränkt ...
EPA/SAMIULLAH POPAL

Einst kamen hochrangige Armeegeneräle zu ihm und wollten seine Vögel begutachten. Auch sie waren leidenschaftliche Taubenzüchter. Nach der Rückkehr der Taliban im August 2021 haben sie das Land verlassen.

"Der Alltag hier ist deprimierend und finster. Ich lebe am Existenzminimum und kann meine Familie kaum ernähren", sagt Amir. Die zerborstene Windschutzscheibe seines Toyota Corolla habe er nicht ausgewechselt, nachdem sie durch einen Selbstmordanschlag der Taliban vor einigen Jahren in Mitleidenschaft gezogen worden war. Mittlerweile gibt es fast keine Anschläge mehr. Heute, am zehnten Tag des islamischen Monats Muharram, war es sogar noch ruhiger.

Die Taliban haben die gesamte Hauptstadt abgeriegelt sowie das Handynetz und das mobile Internet im ganzen Land abgestellt. Telefonanrufe oder Whatsapp-Nachrichten waren plötzlich nicht mehr möglich. Afghanistans schiitische Minderheiten, die früher zum Ashura-Fest immer auf die Straßen gingen, müssen sich den Vorschriften der Taliban unterwerfen. "Kein Wunder. Die haben alles abgestellt, weil sie selbst jeden Trick kennen. Anschläge gibt es nicht mehr, weil die einstigen Terroristen heute selbst regieren", kommentiert Amir zynisch. Das Einzige, was ihn an solchen Tagen beruhigt, sind seine Tauben.

Abzug vor zwei Jahren

Vor zwei Jahren zogen die internationalen Truppen unter der Führung der USA aus Afghanistan ab. Das Pentagon twitterte am 31. August 2021 das Foto von Christopher Donahue, Kommandeur der 82. US-Luftlandedivision, als das des letzten US-Soldaten, der Afghanistan verließ. Mitte August schon hatte Ashraf Ghani, der vorerst letzte Präsident des Landes, mitsamt seinem korrupten Machtzirkel das Land verlassen, die Taliban übernahmen nach zwanzigjähriger Abwesenheit abermals die Macht in Kabul.

Seitdem befindet sich das Land in einem Schwebezustand. Kein Staat der Welt hat das Taliban-Regime bis heute anerkannt. Die afghanischen Devisenreserven in Höhe von rund zehn Milliarden US-Dollar wurden eingefroren, und das Land wird sanktioniert. Eine Strafe, die in erster Linie nicht den Taliban zusetzt, sondern hauptsächlich der einfachen Bevölkerung. Neben Angst und Armut herrschen vor allem Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit innerhalb der Gesellschaft vor. Depressionen und Angstzustände haben massiv zugenommen. Die Suizidrate ist vor allem unter Mädchen und Frauen gestiegen. Während die Taliban in ihrem politischen Neusprech stets davon sprechen, dass der "Frieden" im Land eingekehrt sei, verdrängen sie den Umstand, dass sie praktisch der halben Bevölkerung, sprich den afghanischen Frauen, den Krieg erklärt haben.

Amir beim Füttern seiner Tauben.
... aber auch Männer wie Amirleiden unter der Taliban-Herrschaft.
Emran Feroz

Seit der Rückkehr der Extremisten ist Afghaninnen der Besuch von Oberstufenschulen verboten. Ende vergangenen Jahres kam ein Universitätsverbot hinzu. Die Bewegungsfreiheit von Frauen wird tagtäglich stärker eingeschränkt, ebenso wie die Arbeitsmöglichkeiten. Vor kurzem setzten die neuen Machthaber etwa die Schließung von zehntausenden Schönheitssalons durch. Sie gehörten zu den letzten unabhängigen, von Frauen geführten Unternehmen. Außerdem waren sie eine Art Safe Space, den es nun nicht mehr gibt. "Unsere Zukunftsaussichten wurden mit dieser Entscheidung zerschmettert. In meinem Salon hatte ich sieben junge Frauen angestellt. Nun wissen sie nicht, was sie machen sollen", erklärt Fawzia Akbari*, eine Visagistin aus Kabul. Die 28-jährige Jungunternehmerin will demnächst nach Pakistan reisen, um dort einen neuen Schönheitssalon zu eröffnen.

Ihre einstigen Angestellten werden wohl arbeitslos bleiben. "Sie versuchen, zu Hause ihre Arbeit fortzusetzen, doch das ist schwieriger als anfangs gedacht. Sie müssten wohl früher oder später heiraten, damit ein Mann für sie sorgt", sagt Akbari. Die Taliban selbst stellten die Salons mit Bordellen gleich und sprachen von angeblichen moralischen Vergehen, die sich dort ereignen würden. Außerdem seien die Dienste, die meist vor Hochzeiten in Anspruch genommen werden, überteuert gewesen.

"Tagtäglich entrechtet"

"Im Grund genommen ist es so, dass wir bald gar nichts mehr machen dürfen. Wir werden einfach tagtäglich entrechtet", meint Rubina Sarwari*, eine Studentin und IT-Expertin. Unter strengen Auflagen ist sie weiterhin für einen kleinen IT-Konzern in der Kabuler Innenstadt tätig. Ihr IT-Studium musste sie, zumindest offiziell, abbrechen. "Ich besuche weiterhin Kurse, musste mehrmals vor Taliban-Kontrollen flüchten. Doch so einfach lasse ich mich nicht unterkriegen, auch nicht an meinem Arbeitsplatz", sagt die 28-Jährige. Wie lange es diesen überhaupt noch geben wird, sei unklar. So müsse sie sich an neue Verschleierungsvorschriften und eine strikte Geschlechtertrennung halten. Die Sittenwächter der Taliban würden regelmäßig kontrollieren. Den Frust lassen Männer wie ihr Vorgesetzter im Anschluss an den Mitarbeiterinnen aus. "Er hat mir mehrmals gedroht, mich rauszuwerfen, falls ich die Vorschriften der Taliban nicht einhalte", so Sarwari.

Andere Frauen sehen ihre Zukunft nicht mehr in Afghanistan und versuchen, das Land zu verlassen. Dies geschieht auch über den legalen Weg, also mittels Visa oder möglicher Stipendien. Doch auch hier intervenieren die Taliban. Vor wenigen Tagen wurden siebzig Afghaninnen, die die Aufnahmezusage einer Universität in den Vereinigten Arabischen Emiraten hatten, am Kabuler Flughafen an der Ausreise gehindert. Laut einem Taliban-Dekret dürfen Mädchen und Frauen ohne die Begleitung eines nahestehenden männlichen Familienmitglieds ("Mahram") nicht reisen.

Während die Taliban mit dem Aufbau ihrer Diktatur beschäftigt sind, sucht vor allem die gebildete Schicht des Landes das Weite. "Viele meiner Dozenten sind bereits im Ausland. Ich habe viel in meine Bildung investiert, doch vielleicht hätte ich das Geld lieber einem Schmuggler geben sollen, damit er mich hier rausschafft", sagt Bezhan Karimi*.

"Talibanisierung" der Bildung

Vor kurzem schloss er seinen Bachelor-Studiengang mit Erfolg ab. Doch Grund zum Feiern sah er nicht. Seine halbe Klasse – seine einstigen Kommilitoninnen – waren aufgrund des bestehenden Bildungsverbots abwesend. Währenddessen dürfen Karimi und andere Studenten der Kabuler Universität keine westliche Kleidung mehr tragen. Auch ihre Bärte sind länger geworden. Die "Talibanisierung" des Bildungssystems schreite eben voran. Einige leere Stühle der alten Dozenten seien mittlerweile von Taliban-Offiziellen besetzt. Diese würden Gewalt und Extremismus verherrlichen.

Einen hohen Betrag musste auch Mohammad Wali* für sein Visum bezahlen. Wer weniger aufbringt, landet auf einer Warteliste. Bis heute halten die Taliban nach "Kommandant Wali", wie der 30-jährige ehemalige Elitesoldat der afghanischen Armee genannt wird, Ausschau. Vor dem Sturz Kabuls kämpfte er jahrelang im Norden des Landes. "Ich habe viele Taliban-Mitglieder getötet. Sie werden mir niemals verzeihen", sagt Wali. Offiziell besteht seitens des Regimes eine Amnestie für einstige Sicherheitskräfte, doch viele Taliban-Kämpfer halten sich nicht daran und folgen ihren persönlichen Rachegefühlen. Wali wird in den Provinzen, in denen er stationiert war, gesucht. Wie viele seiner Kameraden – sie haben sich schon längst im Iran oder anderswo verschanzt. (Emran Feroz aus Kabul, 31.8.2023)