Denk ich an Deutschland, bin ich nicht wie einst Heinrich Heine um den Schlaf gebracht, doch mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Deutschland strauchelt, das hat Auswirkungen auf ganz Europa. Das Nachrichtenmagazin The Economist fragte vor zwei Wochen auf der Titelseite, ob unser nördlicher Nachbar wieder zum "kranken Mann" Europas würde, illustriert von einem grünen Ampelmännchen am Infusionstropf.

Die Krise in unserem Nachbarland hat viel mit Verlust- und Abstiegsängsten sowie mit Kultur- und Identitätsfragen zu tun.
APA/DPA/FABIAN SOMMER

Vielleicht ist Deutschland Opfer seiner eigenen Hybris geworden. Lange glaubte das Land, die besten Autos der Welt zu produzieren. Die Hersteller schummelten sich mit getürkten Emissionswerten und enormen Gewinnen in China durch. Es verpasste den Anschluss, als Elon Musk das Auto als fahrende Softwareanwendung neu erfand und entsprechend staatlich förderte. Statt auf Innovation setzte die Politik auf Hartz IV.

Geringes Konfliktpotenzial

Entgegen den Warnungen seiner östlichen Nachbarn waren die Eliten überzeugt, Putins Regime durch gegenseitige Abhängigkeit zähmen zu können. Je mehr billiges Gas Deutschland von Russland importierte, desto geringer schien das Konfliktpotenzial. Gaspipelines wurden als Friedensprojekte gesehen; wer dazu eine andere Meinung hatte, wurde belächelt. Am globalen Markt zu glänzen galt mehr, als zu Hause aufzuräumen. Nur ein Beispiel: Vor einigen Jahren begann die staatliche Deutsche Bahn, sich auf internationale Verkehrs- und Logistikprojekte zu konzentrieren, etwa in China oder Indien, anstatt in den Inlandsverkehr zu investieren. Wer heute mit der Eisenbahn in Deutschland fährt, erlebt die Folgen dieser Entscheidung. Dies alles verkörpert das Erbe der Schröder- und Merkel-Jahre, ein Erbe, das nun bewältigt werden muss, während die AfD an Einfluss gewinnt.

Doch die deutsche Misere und der Aufstieg der Rechten lassen sich nicht allein auf wirtschaftliche Faktoren reduzieren. Die Krise in unserem Nachbarland hat viel mit Verlust- und Abstiegsängsten sowie mit Kultur- und Identitätsfragen zu tun. Andernfalls wäre es schwer zu erklären, warum die AfD auch in wohlhabenden Bundesländern in den Umfragen zulegt. Die Deutschen sind verunsichert. Alles, was sie in der Nachkriegszeit auszeichnete – schnelle Autos, billiges Fleisch, Einfamilienhäuser und Fernreisen –, wird nun infrage gestellt. Hinzu kommt, dass die Medien im Umgang mit den Rechtspopulisten wenig Erfahrung haben. Genauso wie politische Entscheidungsträger machen sie den gleichen Fehler wie wir in Österreich. In der Konfrontation mit den Rechten scheinen sie in eine Art Schnappatmung zu verfallen. Damit geben sie der AfD genau die Aufmerksamkeit, die sie noch stärker macht. Der vermeintliche Kulturkampf wird wiederum übertrieben. So mutierte die Diskussion über einen "Veggietag" in Kantinen in Boulevardmedien zur Schlagzeile, dass Klimaaktivisten gar das deutsche Würstchen verbieten wollten.

Immerhin wurde im Sommer ein echter Kompromiss erzielt: Cannabis soll in Deutschland legalisiert werden. Wenn das Land schon "untergeht", dann zumindest gut sediert und eingenebelt, wobei das nur in streng reglementierten Clubs unter Aufsicht eines offiziell Anerkannten geschehen soll. Die Bürokratie bleibt eine der wenigen Konstanten in einem Deutschland, das strauchelt. (Philippe Narval, 3.9.2023)