Wie gewonnen, so zerronnen: Genauso schnell, wie Nigerias Präsident Bola Tinubu den bevölkerungsreichsten Staat Afrikas nach seiner Wahl im Februar auf Vordermann zu bringen suchte, drohen seine Reformvorstöße nun zu einem kreischenden Halt zu kommen. In seine Rede zur Amtseinführung im Mai hatte der 71-Jährige das explosive Sätzchen eingefügt, dass die legendären Treibstoffsubventionen des Erdölstaats "der Geschichte angehören". Doch angesichts bitterer Klagen der Bevölkerung und einer Streikwelle der Gewerkschaften wagt seine Regierung nun die Benzinpreise dem hohen Weltmarktniveau nicht weiter anzupassen.

Menschen mit Kanistern
Leistbaren Sprit gibt es in Nigeria oft nur am Schwarzmarkt.
AP

Hatte Tinubu außerdem den Chef der Zentralbank gefeuert und die Devisenkontrollen aufgehoben, so zwang der Sturz der Landeswährung Naira den Nachfolger des Chefbankers jüngst zu einem Bremsmanöver: Die Liberalisierung des Geldverkehrs wurde wieder eingeschränkt. Schließlich wollte Tinubu gegenüber den Putschisten im Nachbarland Niger mit der Androhung eines militärischen Eingriffs Zähne zeigen – nur um Stunden später vom Parlament zurückgepfiffen zu werden. "Die Dynamik geht heute in die Gegenrichtung", meint Capital-Economics-Analyst David Omojomola. "Als es darauf ankam, scheute Tinubu zurück."

Ähnliches ist schon seinen Vorgängern widerfahren. Goodluck Jonathan wollte bereits vor elf Jahren die teuren Benzinsubventionen aufheben und erntete einen landesweiten Aufstand, der ihn zum schnellen Rückzug zwang. Sein Nachfolger Mohammad Buhari wagte sich gleich gar nicht an unpopuläre Reformen: Er ließ Afrikas größte Wirtschaftsmacht acht Jahre lang vor sich hindümpeln und sammelte einen riesigen Schuldenberg an. Die Auffassung, der nach Angola zweitgrößte Erdölproduzent des Kontinents sei mit seiner atemberaubenden Korruption, seinen zahllosen Sicherheitsproblemen und den mehr als 130 Millionen in bitterer Armut lebenden Menschen praktisch unregierbar oder zumindest unreformierbar, schien einmal mehr bestätigt zu sein.

Was wurde aus dem "Paten"?

Wenn überhaupt jemandem, war Bola Tinubu der Kraftakt zuzutrauen. Der in den USA ausgebildete Buchhalter hatte um die Jahrtausendwende bereits die Hafenstadt Lagos, eine der wildesten und am schnellsten wachsenden Metropolen der Welt, zumindest einigermaßen in den Griff bekommen. Der mit allen Wassern gewaschene "Pate" des All Progressive Congress (APC) schien selbst mit dem Teufel tanzen zu können, ohne sich zu verbrennen. Auch wenn seine Wahl zum Präsidenten äußerst umstritten war und noch heute die Gerichte beschäftigt: Vor allem in der Geschäftswelt fassten viele neuen Mut.

Und sie wurden von ihrem Kandidaten zunächst auch nicht enttäuscht. Außer die Devisenkontrollen und Treibstoffsubventionen aufzuheben, tauschte Tinubu auch gleich die gesamte Führung des Militärs und der Polizei aus, die sich im Kampf gegen die Islamistensekte Boko Haram, gegen Sezessionisten und Entführer nicht mit Ruhm bekleckert hatten. Er enthob außerdem den Zollchef und den Direktor der Kommission zur Aufdeckung von Finanzverbrechen ihrer Ämter und beorderte sämtliche Botschafter nach Hause zurück. In den muffigen Moloch, dem unzählige gut ausgebildete Landeskinder ständig zu entfliehen suchen, schien frische Luft zu kommen. In- und ausländische Investoren horchten auf, die Börse setzte zu einem Höhenflug an.

Bola Tinubu winkt der Menge zu
Bola Tinubu hatte das Image eines Machers, doch bisher enttäuschte er als Präsident Nigerias.
AP/Lewis Joly

Nicht für lange allerdings. Denn schnell machten sich die Folgen von Tinubus Radikalkur bemerkbar. Der Benzinpreis schnellte über Nacht auf das Dreifache, die Inflation kletterte auf über 25 Prozent, der Kurs des jahrzehntelang von der Zentralbank gestützten Naira schoss gegenüber dem US-Dollar auf 1.000 zu eins.

Kein Geld für Öffis

Die Bevölkerung klagte über beispiellose Härten: Lehrer müssen inzwischen stundenlang zur Schule marschieren, weil sie sich kein Busticket mehr leisten können; Angestellte schlafen im Büro, um Transportkosten zu vermeiden; die Praxen von Ärzten leerten sich, weil sich Erkrankte keine Behandlung mehr leisten können. Der Mindestlohn wurde trotz der drastischen Inflationsrate seit vier Jahren nicht mehr von 30.000 Naira im Monat (rund 30 US-Dollar) angehoben. Gewerkschaften beschwerten sich über "entsetzliches Elend" und riefen im August zu einem zweitägigen Warnstreik auf. Nunmehr soll an diesem Dienstag ein unbefristeter landesweiter Ausstand folgen.

Um den Gewerkschaften den Wind aus den Segeln zu nehmen, ließ Tinubu ein Sozialpaket schnüren, das Landwirten subventionierten Dünger, armen Familien Ausbildungsbeihilfe und öffentlichen Bediensteten eine Erhöhung ihres Lohns versprach. Der Plan, jeder Nigerianerin und jedem Nigerianer monatlich zehn Dollar Unterstützung zukommen zu lassen, wurde nach Protesten der Bevölkerung ("viel zu wenig") wieder fallen gelassen, obwohl Tinubu vorgerechnet hatte, dass der Staat durch den Wegfall der Subventionen schon mehr als zwei Milliarden Dollar eingespart habe – Geld, das wegen der dunklen Geschäfte auf dem subventionierten Brennstoffmarkt vor allem "Betrügern und Schmugglern" zugeflossen sei.

Trotzdem erhöht die Regierung seit zwei Monaten die Benzinpreise nicht mehr, obwohl sich das Rohöl deutlich verteuert hat – ein Zeichen dafür, dass Tinubu stillschweigend wieder zur alten Subventionspraxis übergeht. Ob zum Wohl oder zum Schaden des Landes, wird aus verschiedenen Perspektiven sehr unterschiedlich gesehen. (Johannes Dieterich, 2.10.2023)