"Wer ist der Mann neben mir?", flüsterte mir meine Sitznachbarin zu. Wir waren zu einem Abendessen eingeladen. Sie fand ihn langweilig und emotionslos. Vielleicht hatte er auch einfach einen langen Tag gehabt und war müde, antwortete ich diskret. Zur Identität des Herrn konnte ich sie aufklären. Es handelte sich um Karl Nehammer, damals Generalsekretär des ÖAAB und somit relativ unbekannt.

Armut an der Straßenecke ist sichtbar. Aber viele Betroffene versuchen ihre Armut so gut es geht zu verbergen.
Christian Fischer

Aus dem blassen Funktionär von damals ist ein leidenschaftlicher Politiker geworden. Als Bundeskanzler hat er seine Stimme gefunden. Was er zum Thema Armut, vor allem Kinderarmut, gesagt hat, verstört mich, aber überraschen tut es mich nicht.

Spiegel der Gesellschaft

Viele Landsleute denken und reden so. Die Politik ist ein Spiegel der Gesellschaft. Was Armut betrifft, sind wir in Österreich ziemlich ahnungslos. Schrumpft, je reicher wir werden, unser Verständnis für die Not einer Minderheit? Gerne sehen wir uns als spendenfreudig und sozial, aber kann es sein, dass wir mit jedem Prozent mehr Wachstum des BIP selbstsüchtiger werden?

Wir rühmen persönliche Leistungen und harte Arbeit, vergessen jedoch oft, dass wir zur wichtigsten Grundlage unseres individuellen Erfolgs rein gar nichts beigetragen haben: In eine durchschnittliche Familie in Österreich geboren zu werden ist wie ein Lotteriegewinn. Unser Weg scheint geebnet, bevor wir überhaupt auf die Welt kommen. Doch mir scheint, je weiter Menschen die soziale Leiter hinaufklettern, desto mehr neigen sie dazu zu glauben, dass sie allein aufgrund ihrer Talente dorthin kommen.

Unsichtbare Armut

Die zweite Lüge, der wir gerne aufsitzen, ist die Vorstellung, dass Armut in einem Sozialstaat wie unserem eigentlich nicht existieren sollte, schließlich wird viel Geld in das System investiert. Diejenigen, die am Rande stehen und die dringendste Unterstützung benötigen, erhalten oft zu wenig. Gleichzeitig gibt es jene, die geschickt alles ausnutzen, was möglich ist. Da heißt es dann Schwarzarbeit in der Frühpension, jedes zweite Jahr Kuraufenthalt auf Kasse oder dort und da noch schnell eine Beihilfe beantragen. Doch die Menschen, die in Armut leben, haben selten eine Ahnung, wie man den Sozialstaat ausnützt.

Die dritte Lüge über Armut in Österreich lautet, dass sie kein Problem sein kann, weil wir sie ja auch nicht sehen. Arm, das sind ein paar Bettler aus dem Ausland, die – wenn sie das überhaupt noch dürfen – an einer Straßenecke, vor einem Supermarkt oder dem Bahnhof die Hand ausstrecken.

In einem wohlhabenden Land wie dem unseren bleibt die Armut der Armen meist unsichtbar. Sie bedeutet Schande und Scham. Die Betroffenen wollen sie, so gut es geht, verbergen. Mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche sind arm oder armutsgefährdet. Doch Zahlen allein sprechen nicht. Dahinter stehen Geschichten von alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern, chronisch Kranke und viele alte Menschen. Sie alle haben keine Stimme wie der Kanzler. Er, Karl Nehammer, und wir alle, die wir zu den Gewinnern gehören, sollten den Blick auf die Armut im Land schärfen und aufhören, armselige Lügen zu erzählen. (Philippe Narval, 2.10.2023)