Die Wiener Grüne Viktoria Spielmann macht aus ihrem Ärger über die Koalition mit der ÖVP kein Geheimnis. Gerade jetzt nicht.
Karo Pernegger

Bei den Grünen ist die Verärgerung über den Koalitionspartner groß. Das erfährt man in Gesprächen mit Funktionärinnen und Funktionären, meist aber hinter vorgehaltener Hand. Noch größer als die Verärgerung ist nur die von der Parteiführung ausgerufene und eingeforderte Disziplin. Parteichef Werner Kogler will nichts zum Affront durch den Koalitionspartner sagen. In der ohnedies heiklen Situation, in der sich auch die Grünen nicht sicher sein können, ob die ÖVP den Absprung zu Neuwahlen wagt, will Kogler sein schwarzes Gegenüber Karl Nehammer nicht weiter provozieren. Die grüne Klubchefin Sigi Maurer fühlt sich durch den Plan der ÖVP, einen Untersuchungsausschuss auch gegen die Grünen einzusetzen, erst gar nicht provoziert, selbst wenn dieser käme, wäre das kein Grund, die Koalition zu beenden. "Je toter die Regierung geschrieben wird, desto lebendiger ist sie", sagte Gesundheitsminister Johannes Rauch am Mittwoch nach dem Ministerrat.

Die Grünen wollen aus mehrerlei Gründen die Koalition aufrechterhalten und peilen den regulären Wahltermin im Herbst 2024 an. Zum jetzigen Zeitpunkt könnten die Grünen nicht wirklich punkten. In den jüngst veröffentlichten Umfragen liegen sie bei neun bis zwölf Prozent. Bei der Nationalratswahl 2019 waren es knapp 14 Prozent. Der Schock, 2017 mit 3,8 Prozent aus dem Parlament geflogen zu sein, sitzt aber noch tief. Daher ist man bei den Grünen besonders darauf bedacht, Fehler zu vermeiden. Der Bruch der Koalition wäre aus grüner Sicht ein kapitaler Fehler. Denn die Grünen sind längst noch nicht fertig, und um mit einer guten Erfolgsbilanz vor die Wählerinnen und Wähler zu treten, fehlen zumindest noch das Klimaschutzgesetz und das Informationsfreiheitsgesetz. Auch beim Finanzausgleich wollen die Grünen noch mitmischen und den Ländern Reformen vorschreiben. Außerdem wird mit der ÖVP um etliche Postenbesetzungen gerungen.

"Wir sind im Verhandlungsmodus und versuchen noch wichtige Anliegen durchzubringen", heißt es von einer involvierten Person im Parlament. Eine andere hält dagegen: "Wir lassen uns viel zu viel gefallen."

Aufstand oder Duckmäusertum

Durch allzu laut vorgetragene Kritik oder gar einen offenen Konflikt sollen also die laufenden Verhandlungen mit der ÖVP nicht gestört werden. Viele Grünen fürchten allerdings, dass die Außenwirkung fatal sein und bei potenziellen Sympathisantinnen einen verheerenden Eindruck hinterlassen könnte: dass die Grünen von der ÖVP durch immer neue Provokationen am Nasenring vorgeführt würden. Dass sich das Duckmäusertum bei den Wählerinnen letztendlich nicht bezahlt machen werde.

Eine, die von Anfang an sehr unglücklich mit der schwarz-grünen Koalition war, ist Viktoria Spielmann, Abgeordnete der Wiener Grünen im Landtag. Spielmann kommt aus der ÖH, war als Gewerkschafterin tätig und engagiert sich politisch insbesondere als Feministin und Antifaschistin. Die Regierungsbeteiligung der Grünen begleitete sie kritisch, aber mit geübter Zurückhaltung. Vergangene Woche platze Spielmann der Kragen. Der ÖVP warf sie Heuchelei vor. "Wie realitätsfern kann ein Bundeskanzler ein?", fragte sie sich. Dass Nehammer armen Familien empfiehlt, Kinder mit billigen Hamburgern abzuspeisen, sei schlicht "unpackbar". Armut sei kein Naturgesetz und könne sofort beendet werden: "Mit einer Vermögensteuer und Kindergrundsicherung! Armut verschwindet nicht, indem man sie leugnet. Dass ein Kanzler so ignorant ist, überschreitet eine rote Linie", wütete Spielmann auf der Plattform X (vormals Twitter). "Die ÖVP ist die Partei der Reichen, die will, dass alles so bleibt, wie es ist. Sie hasst Arme & will, dass Frauen ganz in konservativer Manier weiterhin unbezahlte Arbeit machen. Diese abgehobene Politik kann & sollte man bei der nächsten Wahl abwählen!"

Auf den Barrikaden

Das neuerliche Nehammer-Video, in dem der Kanzler seine Position verteidigte und betonte, dass sich Leistung eben lohnen müsse, trieb auch Spielmann wieder auf die Barrikaden. Während sich das Führungsteam der Grünen in Zurückhaltung übte und auf Tauchstation ging, tobte Spielmann. Die wahren Leistungsträger seien die Frauen, „die trotz mehrfacher Belastungen Unglaubliches leisten und echte gesellschaftlich notwendige Arbeit leisten – bezahlt wie unbezahlt. Die ÖVP scheißt auf diese Leute!"

Im Gespräch mit dem STANDARD betont Spielmann, dass sie von Anfang an gegen eine Koalition mit der ÖVP gestimmt habe und sich in dieser Haltung laufend bestätigt sehe. "Ich frag mich manchmal, was sich die Leute erwartet haben. Die ÖVP betreibt billigen, abstoßenden Populismus und betreibt Klientelpolitik, anstatt endlich an Lösungen für die Entlastung der Bevölkerung und gegen die Teuerung zu arbeiten." Die Grünen seien gefordert, hier "klarer dagegenzuhalten, denn es gibt auch ein anderes Österreich. Eines, das hilft, wenn es Not gibt, und eines, das Armut beim Namen nennt und beenden möchte."

Dennoch ist auch Spielmann nicht dafür, die Koalition jetzt aufzukündigen. "Wenn die FPÖ die Sonntagsfrage anführt, ist es meiner Meinung nach der schlechteste Zeitpunkt, um aufzugeben. Jetzt heißt es Ärmel raufkrempeln und anschieben bei all den wichtigen Projekten, an denen wir Grünen dran sind." Wenn sich die ÖVP von der Regierung abgrenzen wolle, soll sie das tun, meint Spielmann, aber dann müssten auch die Grünen selbstbewusster auftreten und eine klare Gegenposition einnehmen – „besser heute als morgen!". Ein solches Statement postete "Spielfrau", wie sich Spielmann auf X nennt, schließlich auch auf nämlicher Plattform. Es wurde fleißig geteilt, aber nur verhalten kommentiert. Die Disziplin wiegt offenbar schwerer als der Ärger. (Michael Völker, 4.10.2023)