Empathie wird derzeit von allen eingefordert. Soziale und andere Medien sind voll davon, Empathie zu fordern, Empathie für Menschen, die wir fast alle nicht persönlich kennen.

Ohne Empathie ist gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht denkbar. Die Fähigkeit, Empfindungen, Emotionen und Gedanken eines anderen Menschen zu erkennen und nachzuempfinden, ist ein wichtiger gesellschaftlicher Kitt, der darauf basiert, im anderen sich selbst erkennen zu können. Das Mitfühlen und Miterleben mit einer anderen Person basiert darauf, dass ich den anderen als jemanden wie mich selbst wahrnehme, dass das, was der andere empfindet, was mit ihm geschieht, auch mir geschehen könnte, auch ich empfinden könnte.

Kerzen, Gedenken
Dank unserer Empathie können wir mit anderen fühlen und mit ihnen trauern. Dabei sind wir aber oft selektiver, als wir es uns zugestehen wollen.
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Damit wird die Sache aber bereits schwierig. Als aufgeklärte Universalistinnen und Universalisten erheben wir gegenüber uns selbst den Anspruch, alle Menschen als gleich zu betrachten. Allein der Gedanke der Menschenrechte basiert schon auf diesem Gleichheitsgedanken. Wir, die wir uns nicht als Rassistinnen und Rassisten betrachten, müssen demgemäß auch jedes Menschenleben als gleichwertig betrachten – daraus folgt der Anspruch, auch Empathie gerecht zu verteilen.

Empathie basiert auf Nähe

Empathie spielt sich aber zunächst nicht auf einer Entscheidungs-, sondern auf einer Gefühlsebene ab. Und wenn wir uns ehrlich sind, dann empfinden wir Empathie primär für Menschen, die uns selbst ähnlich sind, die wir selbst sein könnten. Und dann vielleicht auch noch für Menschen, die wir besser kennen. Ich möchte dies niemandem vorwerfen. Auch ich bin hier nicht anders.

Dass ich für muslimische Menschen im Nahen Osten vermutlich mehr Empathie empfinde als viele andere Mehrheitsösterreicherinnen und Mehrheitsösterreicher liegt nicht daran, dass ich empathiefähiger wäre, sondern daran, dass ich viel Zeit im Nahen Osten verbracht habe, viele gute muslimische Freundinnen und Freunde habe, mit arabischen, kurdischen, persischen und türkischen Menschen Beziehungen aufgebaut habe, getrunken, gegessen, gefeiert und getrauert habe, mit ihnen befreundet bin, ihre Familiengeschichten kenne und weiß, dass sie mir ähnlicher sind, als es manche andere Mitteleuropäerinnen und Mitteleuropäer empfinden mögen. Diese Erfahrungen habe ich mit Menschen aus Ostasien oder dem südlichen Afrika nicht. Seit ich aber als Gastlektor in der Mongolei war und auch dort eine gute Freundin habe, sind mir die Mongolei und ihre Menschen viel näher gekommen.

Was Empathie unter Menschen von jener für Tiere unterscheidet, ist die Möglichkeit einer kognitiven Empathie, die nicht Gefühle, sondern Gedanken, Absichten und Motive anderer verständlich macht. Diese kognitive Empathie ist auch im Kriegsfall essentiell. Sie macht uns nicht per se zu besseren Menschen, sondern hat sich wohl auch gerade in Konflikt und Konkurrenz zueinander als evolutionärer Vorteil entpuppt.

Mit welchen Opfern fühlen wir mit?

In der aktuellen Eskalation im Nahen Osten sehen wir alle die Bilder von israelischen Opfern der Hamas. Die Jugendlichen, die an einem Rave-Festival teilgenommen haben, könnten wir oder unsere Kinder sein. Wir können uns mit den Familien identifizieren, die so ähnlich lebten und so ähnlich aussahen wie wir. Und das Erschrecken darüber, wie grausam diese Menschen von der Hamas oder ihren "linken" Verbündeten von der PFLP und DFLP ermorden wurden, ist ehrlich und wichtig.

Dass die meisten Mitteleuropäerinnen und Mitteleuropäer weniger Empathie für getötete Zivilistinnen und Zivilisten im Gazastreifen empfinden, hat nicht nur damit zu tun, dass die Angreifer aus ebendiesem Gazastreifen kamen, sondern auch damit, dass diese Opfer nicht als wie wir wahrgenommen werden, aus unserer Sicht nicht so aussehen und – wie wir vermuten – auch nicht so leben wie wir. Mit diesen können wir uns nicht identifizieren. Sie bleiben die anderen.

Mit den Kriegsopfern in der Ukraine, die in den Augen der meisten Mitteleuropäerinnen und Mitteleuropäer so aussehen wie sie selbst, konnten die meisten mitfühlen, mit den zeitgleich – in der selben geografischen Distanz – von der Türkei bombardierten syrischen Kurdinnen und Kurden hielt sich die Empathie in Grenzen. Von den Kriegen im Jemen oder im Sudan bekommen die meisten nicht einmal mehr etwas mit.

Diese Menschen sind weit weg, sehen anders aus und leben anders. Und vielleicht ist es auch tatsächlich einfach zu viel verlangt, mit allen Opfern von Kriegen und Naturkatastrophen weltweit gleichzeitig Empathie zu empfinden – zumal in Zeiten, in denen uns Nachrichten potenziell alles Leid täglich aktualisiert auf unsere Handys liefern.

Stimmungsmache und selektive Empathie

Unsere Empathie ist sehr viel selektiver als der universelle Anspruch der Menschenrechte. Empathie und kulturspezifische Prägungen können letztlich auch genutzt werden, um bewusst politische Stimmungen zu erzeugen oder zu verstärken, um die jeweilige Gegenseite zu entmenschlichen, diese zum Beispiel zu "Tieren" zu erklären. Insofern wäre hier auch das Recht auf Nichtpositionierung zu verteidigen. Es ist vielleicht die rationalere Reaktion, Medien, insbesondere Social Media, manchmal abzudrehen, als sich von einer Entrüstung in die andere treiben zu lassen.

Unsere selektive Empathie kann uns solidarisch machen, sie birgt aber auch Gefahren. Sie kann uns dazu bringen, komplexe politische Konflikte nicht mehr zu analysieren, sondern mit moralischen Dogmen von Gut und Böse zu kategorisieren. Die Konsequenz dessen kann sein, dass jeder Hinweis auf Komplexitäten und Ambivalenzen als Relativierung von Schuld und Grausamkeit moralisch verurteilt und kritische Analysen aus dem Diskurswürdigen verbannt werden. Sie kann dazu führen, dass damit das einmal als gut erkannte Opfer immer das moralische Recht hat, sich zu "wehren", und den Mitteln dieser Gegenwehr keine Grenzen gesetzt werden. So kann schon allein der Hinweis auf das humanitäre Völkerrecht zum Verrat werden.

Bedeutung für politische Moral

Diese Frage geht über einen konkreten Fall hinaus. Eine so aufgestellte Forderung nach Empathie und moralischer Positionierung vernebelt oft die Fähigkeit zu komplexem Denken. Es wäre jedoch zu billig, eine universelle Empathie für alle Menschen einzufordern. Empathie ist wichtig in der physischen Begegnung mit konkreten Menschen, sie kann uns aber den Blick für den Verstand nehmen, wenn sie medial vermittelt als Ersatz für politische Analysen verwendet wird. Empathie kann eine wichtige Grundlage sein, um hinter politischen und militärischen Konflikten konkrete Menschen nicht zu vergessen und die Kälte der bloßen Strategie zu vermeiden. Sie muss aber mit dem Verstand zusammenspielen, muss eingebettet und rationalisiert werden.

Der Anspruch einer Universalität der Menschheit und damit die Basis für die Idee der Gleichheit und der Menschenrechte ist mit bloßer Empathie nicht einlösbar, sondern benötigt auch eine intellektuelle Anstrengung. Wir mögen für Menschen, die anders sind als wir, die uns vielleicht sogar feindlich gesonnen sind, wenig Empathie empfinden. Wir können diese aber sehr wohl durch eine intellektuelle Leistung als ebenbürtige Menschen anerkennen, als welche von uns, und uns zwingen, auch die Zivilistinnen und Zivilisten der Gegenseite mit ihren Motiven zumindest intellektuell zur Kenntnis zu nehmen.

Es ist dann eine Entscheidung, ob wir unsere kognitive Empathie nur zu einer effizienteren Kriegsführung oder Übervorteilung nutzen oder als Basis für ein ernsthaftes Gespräch – ein Gespräch unter Feinden mit dem Ziel, einen Konflikt, wenn nicht zu lösen, so zumindest auf eine Ebene zu transformieren, die Gewalt reduziert. (Thomas Schmidinger, 27.10.2023)