von der Leyen, Selenskyj
War erneut in Kiew: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
IMAGO/Pavlo Bahmut

Auf der ersten Seite seines Romans Terra nostra (1979, München) stellte sich der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes vor, dass die Seine in Paris plötzlich angefangen hat zu kochen. Einen Monat später scheint niemand mehr dieser misslichen Lage Beachtung zu schenken, weil "oft wiederholt auch das Außergewöhnliche zum Gewöhnlichen wird".

An diese Geschichte erinnert der Rückgang der Aufmerksamkeit in den Medien für den Überlebenskampf der Ukraine – und das nicht erst seit dem 7. Oktober, seit dem Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel. An der relativen Stille um die Ukraine dürfte auf lange Sicht auch der lobenswerte, weil bereits sechste Besuch der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kiew am Kriegstag 619 seit dem russischen Angriff kaum etwas ändern.

Die Zeit ist angesichts des sich abzeichnenden Stellungskrieges ein Faktor auf der Seite Russlands mit einer dreimal größeren Bevölkerung und einer zehnmal größeren Wirtschaft als die Ukraine. Der sich abzeichnende Stellungskrieg helfe Russland, seine Verluste auszugleichen, gab der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj in einem überraschend offenherzigen Gastbeitrag für den Londoner Economist zu.

Schrumpfende Hilfe

Der Krieg im Nahen Osten hilft Russland direkt und indirekt an der rund 1000 Kilometer langen Frontlinie. Es geht nicht nur um die Verlagerung der Aufmerksamkeit, sondern auch um die möglicherweise verhängnisvollen Folgen im US-amerikanischen Kongress. Die Republikaner sind nur bereit, 14 Milliarden US-Dollar Waffenhilfe für Israel, und auch das mit gewissen Bedingungen, zu gewähren. Es ist völlig offen, ob sie überhaupt und in welchem Ausmaß die von Präsident Joe Biden geforderten 60 Milliarden für die Regierung in Kiew bewilligen werden. Der Schatten einer zweiten Trump-Präsidentschaft bedeutet eine wachsende Bedrohung der lebenswichtigen US-amerikanischen Waffen- und Finanzhilfe für die Ukraine. Der US-Kongress hatte bisher Hilfe für das angegriffene Land in der Höhe von 113 Milliarden US-Dollar gebilligt.

Das Loblied von der Leyens auf die bisher unternommenen Reformschritte als Vorbereitung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU kann nicht über die Verschlechterung der Position der Ukraine innerhalb der EU hinwegtäuschen. Mit dem Antritt der Fico-Regierung in Bratislava gewinnt Viktor Orbán, bekanntlich Wladimir Putins engster Freund in der EU, einen neuen Verbündeten für seine Kampagne "Statt Waffenlieferungen Zeit für sofortige Friedensverhandlungen" zwischen Moskau und Kiew.

Vor dem Hintergrund des Patts und der Aussicht auf einen langwierigen Stellungskrieg in der Ukraine wird die Hilfsbereitschaft in den EU-Ländern, beschäftigt mit dem humanitären Notstand im Gazastreifen und den antisemitischen Gewaltakten, weiter schrumpfen.

Es gibt keine Anzeichen für einen Durchbruch etwa in Deutschland bei der Lieferung der dringend benötigten Flugabwehrraketen, Taurus-Marschflugkörper und anderen Rüstungsgütern. Je länger der Krieg dauert, umso größer wird auch die Gefahr der Entvölkerung, weil rund die Hälfte der Geflüchteten aus der Ukraine überlegt, längerfristig im Ausland zu bleiben. (Paul Lendvai, 6.11.2023)