The Danish Girl
Die Geschichte der Künstlerin und Transgender-Pionierin Lili Elbe wurde auch verfilmt. "The Danish Girl" erschien 2016.
ORF

Ende Oktober war ich seit langem wieder einmal in der Oper. Nach der mehrjährigen Renovierung der Tonhalle St. Gallen hatte deren Intendant zur Wiedereröffnung ein mutiges Premierenstück angesetzt. Ich ging aus Neugierde hin.

Das Libretto handelte vom Leben der Künstlerin und Transgender-Pionierin Lili Elbe, die 1882 als Einar Wegener in Dänemark geboren worden war. Bühnenbild und Inszenierung waren hervorragend, das Gesangliche kann ich weniger beurteilen, denn ich bin eher unmusikalisch. Ich hatte auch keinen Bezug zu Transsexualität. Die Verbissenheit, mit der Debatten darüber in sozialen Netzwerken geführt werden, schreckte mich eher davon ab, mich mit dem Thema zu beschäftigen.

Aber dann sah ich die Geschichte von Lili Elbe auf der Bühne: eine Geschichte von Ausgrenzung, Liebe und der Hoffnung auf ein freies Leben – in diesem Fall in Paris, wohin Lili Elbe damals aus der Enge Kopenhagens mit ihrer Frau geflohen war. Und eine Geschichte von Leid und Tod, der die Künstlerin ereilte, als sie sich Anfang der 1930er-Jahre in Dresden einem damals unerprobten sexualmedizinischen Eingriff unterzog. Die Heldin entsprach nicht den Charakterschablonen einer heterosexuellen Romantik, die ich bisher aus der Oper kannte. Sie brachte mir das Leben eines transsexuellen Menschen nahe, ermöglichte mir ein emotionales, empathisches Verstehen, das Debattenräume nicht vermitteln können. Die Kunst besitzt eben diese wunderbare Möglichkeit, Nähe zu schaffen, wo vorher Gleichgültigkeit oder Unverständnis dominierten.

Berührende Erzählungen des Andersseins

Täten uns nicht mehr dieser Heldinnen- und Heldengeschichten gut? Unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger, unser Verständnis für die "Anderen" scheint aber im Taumel digitaler Verzerrung zu schwinden. Es beunruhigt mich, wenn politische Diskurse wieder das vermeintlich "Normale" beschwören. Doch in dieser politischen Lage zu glauben, dass sich sozialer Zusammenhalt und Toleranz über rationale Argumente allein schützen lassen, halte ich für eine Illusion. Wir brauchen berührende Erzählungen des Andersseins!

Diese müssen nicht tragisch enden. Als Vater eines Kindes mit Autismus freute es mich, vor einigen Wochen im Kino die Verfilmung Wochenendrebellen des gleichnamigen Buchs zu sehen. Es handelt von der wahren Geschichte eines Vaters, der mit seinem autistischen Sohn per Bahn von Fußballspiel zu Fußballspiel in Deutschland tingelt, um einen Lieblingsverein für den Jungen zu finden. Ich habe diesen Film unseren Freunden und Verwandten empfohlen, weil er auf humorvolle Art und Weise mehr Verständnis für das Leben mit einem autistischen Kind schafft – mehr, als es mir beim Versuch gelingen würde, diese komplizierte Diagnose zu erklären.

Geschichten von Menschen, die gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen, eine Bühne zu geben, ist längst überfällig und hat mit politischer Korrektheit oder "Wokeness" nichts zu tun. Jene vielen, die anders sind oder dazu gemacht werden, haben in der Vergangenheit selten eine Bühne bekommen. Das ändert sich im Kino, in der Oper und anderswo, und das ist gut so. (Philippe Narval, 13.11.2023)