Kaum eine Redewendung passt so oft.
AP/Martin Meissner

Manche Dinge in diesem Land wirken nach zwei Jahren Abwesenheit bei meiner Rückkehr aus der Schweiz noch befremdlicher auf mich als zuvor. Sie können sich wahrscheinlich denken, was ich meine. Die fortschreitende Verrohung der politischen Sprache bereitet wohl nicht nur mir Sorgen. Gleichzeitig gibt es aber durchaus charmante Aspekte unserer Sprachkultur, die ich an meinem Heimatland Österreich vermisst habe. Die Redewendung "Schau ma mal" ("Schau ma amoi" im Westen des Landes) hat mir besonders gefehlt. Weder unsere westlichen noch unsere nördlichen Nachbarn, die Deutschen, haben diese in ihrem aktiven Repertoire.

Entstanden mag sie aus der in Österreich historisch sehr ausgeprägten Obrigkeitshörigkeit sein. Wir wurden über Jahrhunderte von Monarchen und der katholischen Kirche regiert. Autoritäten gegenüber ein Nein auszusprechen ist bis heute mancherorts ungebührlich, das "Schau ma mal" bietet uns einen Ausweg.

Auch im familiären Kontext lässt sich der Begriff wunderbar flexibel einsetzen. Ihre Kinder fordern unzählige und womöglich unnütze Weihnachtsgeschenke? Schau ma mal. Die Verwandtschaft erwartet sich während der Feiertage Ihren Besuch, aber Sie wollen sich um die Jahreswende erholen? Da schau ma mal.

Breites Anwendungsfeld

Doch die Redewendung verfügt über ein viel breiteres Anwendungsfeld; sie ist für mich sozusagen ein sprachliches Universalwerkzeug im Umgang mit einer ungewissen Zukunft. Bei unsicheren Vorhaben und in schwierigen Lebenslagen: Schauen wir! Das ist eine Herangehensweise, die unsere straffer organisierten Nachbarn nur schwer kapieren. Für vieles braucht es dort bis ins Letzte ausformulierte Pläne, die dann selten so aufgehen. Dank dieser Haltung haben wir auch keine Schuldenbremse in der Verfassung, die der deutschen Regierung aktuell Kopfweh bereitet. Natürlich birgt das die Gefahr eines kakanischen Durchwurstelns. Richtig eingesetzt stärkt sie unsere Ambiguitätstoleranz, eine Fähigkeit, die – mag man Soziologen Glauben schenken – besonders wichtig ist.

Ich habe unser "Schau ma mal" liebgewonnen, auch weil es ein wenig Hoffnung bietet. Im Gegensatz zur Anwendung in der Konfliktvermeidung kann die Redewendung auch eine Einladung sein, einem Vorhaben eine Chance zu geben und gemeinsam mit dem Gegenüber zu überlegen, wie etwas vielleicht doch gehen könnte. In so mancher Situation lassen wir damit eine Tür offen, die andere im Verlangen nach absoluter Klarheit schon zugemacht hätten.

"Schau ma mal" ist für mich auch die Aufforderung, zu reflektieren, einen höheren Aussichtspunkt einzunehmen, auf einen echten oder imaginären Gipfel zu steigen und innezuhalten. Wir spüren intuitiv, dass es sinnlos ist, in einer Zeit der Polykrisen einfach weiterzumachen wie bisher.

Doch je beschleunigter uns die Welt erscheint, je undurchschaubarer Konflikte und Krisen wirken, lautet unsere Antwort hektische Betriebsamkeit. Ein anderer Weg könnte sein, das Handy zur Seite zu legen, einfach mit dem Blick in die Weite zu schweifen und neue, ungewohnte Perspektiven auszuprobieren. Was bedeutet diese Wendezeit für mich, meine Nächsten und für unsere Gesellschaft? Schau ma mal! (Philippe Narval, 27.11.2023)