Anfang November unternahmen meine Frau und ich eine Reise mit dem Nachtzug nach Hamburg. Leider hatte der Schlafwagen auf der Rückreise satte zwei Stunden Verspätung. Ich versäumte eine Besprechung, besann mich im Ärger auf meine "Fahrgastrechte" und entschied mich, direkt bei den ÖBB anzurufen. Eine Nachricht informierte mich über einen automatisierten Vorgang zur Beantragung der Entschädigung. Kurz darauf erhielt ich eine SMS mit einem Link zu einem "Chatbot". Dieser führte mich in wenigen Schritten zügig und problemlos durch die notwendigen Abfragen. Ein paar Stunden später landete die Gutschrift auf meiner App am Mobiltelefon. Kaum zu fassen: Ein staatliches Unternehmen machte es mir leicht, an mein mir zustehendes Geld zu kommen. Ist Ihnen so etwas schon einmal passiert?

Menschen am Bahnsteig
Nach einer Zugverspätung zügig und unbürokratisch zur Gutschrift – kaum zu fassen.
Foto: APA / Tobias Steinmaurer

Wer auch immer den Chatbot der ÖBB programmierte und den Antragsprozess vereinfachte, hat "Gatsch" – oder auf Englisch "Sludge" – verhindert. So bezeichnet der US-Amerikaner Cass R. Sunstein das Phänomen, wenn uns unnötige Warteschleifen oder zähe, undurchsichtige Verwaltungsprozesse Lebenszeit und Nerven kosten. Anders als der Schneegatsch im Winter hat Sludge immer und überall Saison. Sunstein ist Verhaltensökonom und bezieht den Faktor Mensch – anders als die klassische Ökonomie – in seine Forschung mit ein. Nicht alles, was er erforscht, ist bahnbrechend, manche Ergebnisse erschließen sich auch dem Hausverstand.

Weltmeister digitale Konzerne

Das Silicon Valley verwendet seinen "Nudging"-Ansatz in vielen digitalen Anwendungen. Das ist ein Grund, warum digitale Konzerne dort Weltmeister in der Vermeidung von "Sludge" sind. Nur geht es auf ihren Plattformen nicht darum, dass Bürgerinnen zu ihren Rechten oder wichtigen Leistungen der Daseinsfürsorge kommen, sondern darum, dass sie als Konsumierende mehr Geld ausgeben.

Sludge/Gatsch ist Österreich nicht fremd. Formulare, Warteschleifen, komplizierte Antragsprozesse: Manche Organisationen scheinen sich hierzulande vor allem selbst zu verwalten. Für Sunstein ist das nicht nur ein Ärgernis, das Zeit und Nerven verschlingt, sondern ein riesiges volkswirtschaftliches und gesellschaftliches Problem.

Praktisch, aber wenig Mehrwert

In seinem "Sludge"-Buch argumentiert er, dass komplizierte Behörden- und Verwaltungsprozesse vor allem jenen Menschen schaden, die ohnehin schon benachteiligt sind; also zum Beispiel Menschen, die in Armut leben oder akut armutsgefährdet sind. Sludge/Gatsch verschärft Ungleichheit. Er verhindert, dass Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Recht kommen. Wenn dich das Leben schon aufgrund von Krankheit, Pflege von Angehörigen oder anderen Gründen überfordert, hast du keine Kraft mehr für komplizierte Anträge und Amtswege.

Wenn wir also aktuell über die lobenswerte Einführung der neuen "E-ID Austria" diskutieren, dann sollten wir Sunsteins Forschung dabei nicht außer Acht lassen. Der neue digitale Führerschein ist praktisch, bringt volkswirtschaftlich aber wenig Mehrwert. Wir sollten uns eher fragen, wo bei allen Neuerungen der digitalen Verwaltung benachteiligte Mitbürgerinnen und Mitbürger immer noch in mühseligen Warteschleifen und Prozessen stecken oder längst resigniert haben. (Philippe Narval, 11.12.2023)