Eske Willerslev sitzt an seinem Schreibtisch, darauf ein Knochen und eine Axt
Ein Mammutknochen und eine Axt erinnern Eske Willerslev an seine Zeit als Abenteurer in Sibirien – bevor er sich der Entschlüsselung urzeitlicher DNA widmete.
Mikal Schlosser

Er ist ein Pionier im wahrsten Sinn des Wortes: Der dänische Evolutionsgenetiker Eske Willerslev war noch keine 20 Jahre, als er mit seinem Zwillingsbruder in der sibirischen Wildnis nach Mammutknochen suchte und als Fallensteller arbeitete. Später, während seine Studiums an der Universität von Kopenhagen, gewann er erstmals DNA aus Eiskernen. Mit 33 wurde er der damals jüngste Professor Dänemarks. 2010 sequenzierte er erstmals ein antikes Genom, das eines 4.000 Jahre alten Mannes eines ausgestorbenen Volkes. 2022 schließlich knackte er die älteste jemals gefundene, zwei Millionen Jahre alte DNA, die er aus dem Boden im nördlichsten Grönland extrahiert hatte.

Dazwischen identifizierte Willerslev, der schon der "Indiana Jones von Dänemark" genannt wurde, dank einer Haarlocke von Sitting Bull dessen Urenkel und räumte mit den stereotypen Bildern von Wikingern auf und fand heraus, warum die Mammuts ausstarben. Vor allem schrieb er auf Basis von Analysen uralter DNA die weltweite Populationsgeschichte um und stellte damit das Verständnis der menschlichen Evolution auf neue Beine. Als bahnbrechend gelten auch seine Erfolge bei der Gewinnung von DNA direkt aus Umweltproben. Im November wurde er in Bern mit dem Balzan-Preis in Höhe von 750.000 Schweizer Franken (derzeit rund 791.000 Euro) ausgezeichnet.

STANDARD: Einer Ihrer Schwerpunkte ist die Analyse extrem alter DNA, um die Veränderungen von Populationen zu rekonstruieren. Dabei zeigte sich unter anderem, dass es viel mehr Mobilität gab als gedacht. Die europäische Bevölkerung etwa geht auf drei Migrationsströme zurück. Woher kommen unsere Vorfahren?

Willerslev: Es gibt drei große Einwanderungen, die im Grunde die genetische Basis aller Europäer bildeten. Die früheste war jene der eurasischen Jäger und Sammler vor rund 40.000 Jahren. Vor etwa 10.000 Jahren folgten Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten, die bereits Landwirtschaft betrieben. Besonders in Südeuropa vermischten sie sich mit den Jägern und Sammlern. Diese gemischte Population breitete sich schließlich nach Norden aus, wo sie rasch die Jäger und Sammler verdrängte. In Westeuropa bedeutete das einen Wandel hin zu bäuerlichen Gesellschaften, nicht jedoch im Osten, wo weiterhin Jäger und Sammler vorherrschten. Die Trennlinie verlief von den baltischen Staaten bis zum Schwarzen Meer – es gab keine physische Barriere, wir wissen also nicht genau, ob es kulturelle oder andere Gründe für diese Trennung gab. In der Bronzezeit, vor 5000 Jahren, gab es dann die dritte Bewegung: Die Jamnaja, ein Hirtenvolk aus der Pontischen Steppe im westlichen Asien, wanderten nach West- und Nordeuropa, wo sie einen immensen genetischen und kulturellen Einfluss hatten und die Bauern verdrängten.

STANDARD: Inwieweit beeinflusst uns dieses genetische Erbe noch heute?

Willerslev: Erst kürzlich haben wir die Genome der drei Gruppen mithilfe der UK Biobank, einer umfassenden biomedizinischen Datenbank, verknüpft und konnten so auf den Ursprung verschiedener Merkmale schließen. Nicht nur was den Phänotyp, also körperliche Merkmale, sondern auch, was die Anfälligkeit für Krankheiten betrifft. Zu meiner großen Überraschung konnten viele der genetischen Mutationen, die für gewisse Krankheiten verantwortlich sind, direkt auf diese drei Migrationsströme zurückgeführt werden.

Ausgrabung in einer Höhle
In einer Höhle in Mexiko fanden Eske Willerslev und sein Team DNA im Boden, die Hinweise auf die ersten Amerikaner gab.
privat

STANDARD: Was war so überraschend daran?

Willerslev: In der Schule haben wir gelernt, dass die Evolution uns zu dem gemacht hat, was wir sind. Es gab die Vorstellung, dass sich isolierte Gruppen von Menschen aufgrund des Selektionsdrucks weiterentwickelten. Natürlich stimmt das immer noch. Aber wir sehen nun, dass sich die genetischen Wurzeln der Europäer außerhalb Europas bildeten und hierhergebracht wurden. Unsere genetische Basis dafür, wie wir heute aussehen und wer wir sind, ist ein Resultat von Migration.

STANDARD: Welche Krankheitsrisiken konnten Sie mit den genetischen Stämmen in Verbindung bringen?

Willerslev: Die Jäger und Sammler, deren DNA vor allem in Osteuropa noch viele Menschen in sich tragen, brachten Genvarianten mit sich, die mit einem erhöhten Risiko für Diabetes Typ 2 und Alzheimer assoziiert sind. Hochgewachsene Körper und eine höhere Anfälligkeit für Multiple Sklerose in Nord- und Nordwesteuropa kamen eindeutig mit den Genen der Jamnaja. Ein Risiko für stimmungsbedingte Krankheiten wiederum scheint auf jene genetischen Anteile zurückzuführen zu sein, die von Bauern-DNA kommen, die vor allem in Südeuropa verbreitet ist.

"Infektionskrankheiten wie die Pest, Hepatitis B und Pocken traten tausende Jahre früher auf als gedacht."

STANDARD: Infektionskrankheiten dürften auch ein treibender Faktor dafür gewesen sein, dass sich Menschen überhaupt von Ost nach West bewegten. Wie kamen Sie zu dieser Vermutung?

Willerslev: Wir sahen insbesondere im westlichen Asien der Bronzezeit rapide Veränderungen in der Bevölkerung. Ständig wurde eine Gruppe durch die nächste ersetzt. Diese Dynamik hat uns verblüfft. Es gab keine Anzeichen für Klimaveränderungen, also fragten wir uns, ob Epidemien dafür verantwortlich gewesen sein könnten. Bei einem Screening der DNA von Zahnwurzeln, wo Spuren von Pathogenen über Tausende von Jahren überleben können, stellten wir fest, dass zehn Prozent der bronzezeitlichen Skelette mit Pest infiziert waren. Nachdem wir all unsere Proben auf Virus- und Bakterien-DNA untersuchten, wurde offensichtlich, dass Infektionskrankheiten wie die Pest, Hepatitis B und Pocken tausende Jahre früher als gedacht auftraten und die Mutationsraten viel höher waren als heute.

STANDARD: Wie können wir dieses Wissen heute nutzen?

Willerslev: Wir könnten damit die Veränderungen von Krankheitserregern besser verstehen und somit auch künftige Epidemien vorhersehen. Die uralte DNA ermöglicht uns, Mutationen zu identifizieren, die heute verloren sind, aber einst erfolgreiche Infektionstreiber waren. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis solche Varianten wieder auftauchen. Wir können also Impfstoffe auf ihre Effektivität bei potenziellen zukünftigen Ausbrüchen testen und Stellen im Genom von Erregern ausfindig machen, die über die Zeit stabil bleiben und sich besonders als Ziele für Vakzine eignen.

Zwei Forscher mit Schaufeln auf einem Hügel
Eske Willerslev and Kurt Kjær beim Buddeln am Kap-København im nördlichen Grönland. Dort fanden sie zwei Millionen Jahe alte DNA – ein Durchbruch in der Paläogenetik.
APA/AFP/HANDOUT

STANDARD: Wie viele uralte Zähne haben Sie untersucht?

Willerslev: Wir sind gerade dabei, eine große Studie abzuschließen, in der wir 5000 menschliche Genome und die ihrer Pathogene aus Europa und Westasien sequenziert haben, die zwischen 14.000 und 150 Jahre alt sind. Wir wollen nicht nur verstehen, wie wir zu den Menschen geworden sind, die wir heute sind, sondern auch eine Gendatenbank für die Erforschung von Krankheiten aufbauen.

STANDARD: Welche Potenziale sehen Sie auf dem Gebiet der Umwelt-DNA?

Willerslev: Umwelt-DNA, die aus Sedimenten gewonnen wird, hat für mich das größte Potenzial, unsere Vergangenheit und den Wandel der Ökosysteme besser zu verstehen und für die Zukunft zu nutzen. Durch den Klimawandel ist die Nahrungsmittelproduktion in den letzten 30 Jahren immer weiter zurückgegangen. Um den Ertrag zu steigern, haben wir praktisch nur mehr Monokulturen und kaum genetische Variationen im Saatgut. In Zeiten des rapiden Klimawandels ist das ein großes Problem. Wir wissen, dass die Erde viele Klimaveränderungen durchgemacht hat und die Natur sich daran angepasst hat, genetisch und durch Reorganisation der Ökosysteme. Wir können also die Informationen aus der Umwelt-DNA auf unsere heutige Nahrungsmittelproduktion übertragen, um sie resilienter zu machen. Dafür sind ausgefeilte Computersysteme notwendig, die in der Lage sind, die DNA-Fragmente aus der Erde mit allen anderen bekannten DNA-Fragmenten auf der Welt zu vergleichen – eine enorm aufwendige Sache.

Eske Willerslev erklärt im Nature-Videointerview seine Arbeit (2022)
Eske Willerslev erklärt im Nature-Videointerview seine Arbeit (2022)
NPG Press

STANDARD: Sie haben 2022 die mit Abstand älteste DNA gefunden. Wie weit kann man in der Zeit zurückgehen, wo ist das Limit?

Willerslev: Niemand weiß das. 2016 schrieb ich einen Übersichtsartikel, in dem ich feststellte, dass DNA nicht länger als eine Million Jahre überleben kann, aufgrund ihres Zerfalls über die Zeit. Und ein Jahr später fand ich selbst in Grönland DNA, die zwei Millionen Jahre alt war. Für lange Zeit konnten wir nichts damit anfangen. Erst mithilfe technologischer Innovationen konnten wir schließlich herausfinden, wo im Sediment die DNA gebunden war, und sie dann herauslösen. Wie lange DNA überleben kann, hängt vom Mikroklima ab, die genauen Prozesse haben wir aber noch nicht verstanden. Ich bin aber überzeugt davon, dass das Limit noch nicht erreicht ist. (Karin Krichmayr, 23.12.2023)