Frau gibt Stimmzettel ab
Eine Wählerin an der Urne.
REUTERS/VALDRIN XHEMAJ

Nach ersten Hochrechnungen liegt die regierende Fortschrittspartei SNS von Staatspräsident Aleksandar Vučić bei der Parlamentswahl in Serbien vor dem Oppositionsbündnis Serbien gegen Gewalt. Nach Auszählung von 90 Prozent der abgegebenen Stimmen liegt die SNS bei 46 Prozent und Serbien gegen Gewalt bei 24 Prozent. Die Daten stammen von den Agenturen Cesid/Ipsos.

Damit könnte die SNS mit einer knappen Mehrheit von 128 Mandaten in der 250-sitzigen Volksversammlung (Skupština) allein regieren. Die prowestliche Oppositionskoalition Serbien gegen Gewalt (SPN) kommt demnach auf 65 Mandate. Dahinter folgen die Sozialisten von Außenminister Ivica Dačić mit 6,7 Prozent beziehungsweise 19 Mandaten.

Vučić sei "sehr stolz" auf den Wahlkampf. Sollte sich das Resultat bestätigen, würde die SNS gestärkt aus der Wahl hervorgehen. Bisher verfügte sie über 120 Mandate und war auf einen Koalitionspartner angewiesen. 6,5 Millionen Serbinnen und Serben konnten aus 18 Listen für die 250 Sitze im Parlament stimmen.

Video: Vučić nimmt Wahlsieg seiner Partei in Anspruch.
AFP

Vučić büßte in Belgrad an Zustimmung ein

In Belgrad waren 1,6 Millionen Menschen wahlberechtigt. Die Wähler stimmten bei gleichzeitig abgehaltenen Kommunalwahlen über 110 Stadträte in der Belgrader Stadtversammlung ab, die in der Folge den Bürgermeister wählen. Am Sonntag fanden auch in weiteren 64 Gemeinden Lokalwahlen statt. Die Kommunalwahlen wurden mit der Parlamentswahl zusammengelegt, weil die SNS von einem möglicherweise schlechten Abschneiden in der Hauptstadt durch ein bundesweit gutes Ergebnis ablenken wollte.

Das Regime von Vučić hat in der Hauptstadt im vergangenen Jahr viel an Zustimmung eingebüßt. Ausschlaggebend dafür war die mangelnde Reaktion der Regierenden nach den zwei Amokläufen im Mai, bei denen 19 Menschen ums Leben kamen. Auch wenn die Opposition in Belgrad massiv gestärkt wurde, ist eine Oppositionsregierung unwahrscheinlich, weil die SNS viel eher Koalitionspartner finden kann. Es zeichnet sich eine Pattsituation ab: Weder SNS noch SPN dürften in der Stadtversammlung, die den Bürgermeister wählt, eine Mehrheit haben.

Zünglein an der Waage ist die neue Liste des Arztes und Rechtspopulisten Branimir Nestorović, die mit fünf Prozent der Stimmen überraschend auch den Einzug ins Landesparlament schaffte. Vučić sagte, dass er davon überzeugt sei, dass der bisherige Bürgermeister von Belgrad, Aleksandar Šapić von der SNS, wieder sein Amt einnehmen werde.

Unregelmäßigkeiten am Wahltag

Im Lauf des Wahltags kam es zu Unregelmäßigkeiten. So wurden Beobachter der Wahlbeobachtungs-NGO CRTA in einer Gemeinde in der Provinz Vojvodina angegriffen, nachdem sie beobachtet hatten, wie dutzende Stimmzettel nach der Wahl weggebracht wurden. Unbekannte Männer demolierten danach das Fahrzeug der Beobachter, weil sie den Vorfall der Polizei meldeten. Den Angaben der Wahlbeobachter zufolge wurden zudem Stimmzettel fotografiert, was verboten ist, auch Propagandamaterial wurde in Wahllokalen gefunden.

Das Fotografieren von Stimmzetteln, nachdem man gewählt hat, dient zumeist dazu, einer Partei zu "beweisen", dass man sie gewählt hat. Insbesondere in der öffentlichen Verwaltung bekommen viele Menschen in Südosteuropa nur Posten, wenn sie eine Partei bezahlen und sie auch wählen beziehungsweise ihr weitere Stimmen "sichern", indem sie andere anweisen, auch diese Partei zu wählen. Ministerpräsidentin Ana Brnabić von der SNS wies die Vorwürfe der Opposition wegen Unregelmäßigkeiten und Stimmenkaufs zurück und warf den Oppositionsparteien gleichzeitig Verstöße gegen die Wahlregeln vor.

Busse aus Bosnien-Herzegowina

Hingegen warfen Opposition und Wahlforscher der Regierungspartei rund 450 Verstöße gegen die Wahlordnung vor. Oppositionsführer Radomir Lazović beklagte "eine Menge Unregelmäßigkeiten" während der Wahl. Er sprach von "Stimmenkauf" und gefälschten Unterschriften. Bei den Wahlen am Sonntag wurden zudem Personen aus dem Nachbarstaat Bosnien und Herzegowina mit Bussen nach Belgrad gebracht, um offenbar dort bei den Belgrader Lokalwahlen ihre Stimme abzugeben. Im Vorfeld war bereits bekannt geworden, dass an Personen an Adressen in Belgrad Wahlwerbung geschickt wurde, obwohl diese Personen dort gar nicht leben. Gleichzeitig hat das serbische Regime in den vergangenen Jahren 180.000 Staatsbürgerschaften an Bürger des Staates Bosnien und Herzegowina ausgegeben.

Lokalen Medien und Oppositionsparteien zufolge wurden diese Personen aus Bosnien-Herzegowina zunächst in eine Arena gebracht und von dort aus angewiesen, in welches Wahllokal sie gehen sollten. Der Fernsehsender N1 veröffentlichte Videos, die Busse vor der Arena und Audioaufnahmen zeigten. Die interviewten Menschen sagten, sie seien aus dem bosnischen Landesteil Republika Srpska.

N1 berichtet außerdem, dass die Oppositionsmitglieder der Landeswahlkommission versuchten, die Arena zu betreten, der Zutritt ihnen jedoch vom Sicherheitsdienst verboten wurde. Zur Wahl nach Belgrad kam auch der völkisch orientierte bosnisch-serbische Sezessionist Milorad Dodik, der die Republika Srpska von Bosnien und Herzegowina abspalten und an Serbien anschließen will, um ein Großserbien zu schaffen.

Slaviša Orlović, Professorin an der Fakultät für Politikwissenschaften, sagte gegenüber N1, dass der Wahltag ein Zeichen dafür sei, dass die Serbinnen und Serben immer noch nicht in einem Land leben, in dem Wahlen ein Tag der Demokratie seien. "Es handelt sich höchstwahrscheinlich um eine organisierte Abstimmung von Bürgern der Republika Srpska mit doppelter Staatsbürgerschaft, die offenbar nicht einmal ihren Wohnort kannten", so Orlović zu N1. (Adelheid Wölfl, 17.12.2023)