Das Bemerkenswerte in Suwaida und in der umgebenden Jabal-Druz-Region ist, dass hier in einer Region Syriens protestiert wird, in der es 2011 zwar Proteste gab, die sich aber nicht hinter die bewaffneten Aufstände gegen das Regime gestellt hatte, und dass diese Proteste bis jetzt gewaltlos waren und nicht zu einem neuen bewaffneten Konflikt geführt haben. Und schließlich, dass das syrische Regime bis jetzt nicht in der Lage war, diese zu beenden.

Berg der Drusen

Aber beginnen wir mit der Beschreibung dieser Region und der dort lebenden Bevölkerung. Suwaida ist das kleinstädtische Zentrum einer Region, die auf Arabisch Jabal Druz (Berg der Drusen) genannt wird. Wie der Name schon sagt, handelt es sich dabei um einen Mittelgebirgsstock im Süden Syriens, der ganz überwiegend von Drusen, Angehörigen einer heterodoxen Religionsgemeinschaft, bewohnt wird, die sonst auch noch im Libanon, auf dem israelisch besetzten Golan und im Norden Israels zu finden sind.

Ob die Drusen eine eigenständige Religion oder eine Strömung innerhalb des schiitischen Islams darstellen, ist selbst unter Drusen umstritten. Die im elften Jahrhundert aus der ismailitischen Schia entstandenen und von einem Missionar des fatimidischen Khalifen al-Hakim in den Libanon getragene Religionsgemeinschaft überlebte jedenfalls zunächst im Schuf-Gebirge und wurde zu einer sehr abgeschlossenen eigenwilligen Religionsgemeinschaft, die von der sunnitischen Orthodoxie nie anerkannt wurde. Ad-Darzī, der Missionar, der die Religionsgemeinschaft in den Libanon brachte, wird bis heute von manchen sunnitischen Autoren, als Apostat (arabisch "murtadd") und Häretiker (arabisch "mulḥid") betrachtet.

Protestbewegung
Bereits im September wurde inSuwaida gegen das syrische Regime protestiert. Die Bewegung hat bisher angehalten.
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Aber nicht immer wurde dieses strenge Urteil von allen Sunniten geteilt, insbesondere dann nicht, wenn es politisch opportun war, sich mit den Drusen zu arrangieren. Im 16. Jahrhundert gelang es den Drusen, im Schuf-Gebirge innerhalb des Osmanischen Reiches ein eigenes Fürstentum unter osmanischer Oberhoheit zu schaffen. Die ehemalige Hauptstadt, Deir al-Qamar, in der es neben drusischen religiösen Einrichtungen bis heute auch eine Synagoge sowie eine maronitische, eine griechisch-orthodoxe und eine griechisch-katholische Kirche gibt, zeugt von der religiösen Vielfalt, die sich unter drusischer Herrschaft hier etablieren konnte.

Im 17. und 18. Jahrhundert wanderten aus dem Libanon in mehreren Wellen Drusen in das damals kaum besiedelte und bis zu 1.800 Meter ansteigende Gebirge im Süden Syriens, sowie auf den Golan und später in das heute zu Israel gehörende Karmel Gebirge. Das Gebirge der Drusen (Jabal Druz) wurde damit zum zweitwichtigsten Siedlungsgebiet der Drusen nach dem Libanon.

Nach der Osmanenherrschaft gab es hier unter französischer Herrschaft von 1921 bis 1936 ein eigenes drusisches Verwaltungsgebiet mit der Hauptstadt Suwaida. Viele Drusen sympathisierten allerdings mit dem Arabischen Nationalismus und spielten eine wichtige Rolle im Kampf gegen den französischen Kolonialismus. Sultan al-Atrasch, der aus einem Dorf des Jabal Druz stammte, wurde 1925 bis 1927 zum Generalkommandant der Syrischen Revolution, die aufgrund der hohen Beteiligung der Drusen von den Franzosen auch als Drusenrevolte bezeichnet wurde. Als Antwort darauf verübten französische Soldaten ein Massaker an drusischen Zivilistinnen und Zivilisten. Luftangriffe der französischen Armee zerstörten ganze Dörfer in der Region. In der Folge wurde mit dem Bloc national aber jene Allianz gebildet, die Syrien schließlich am 17. April 1946 in die Unabhängigkeit führe sollte.

Drusen unter der Herrschaft der Baath-Partei

Im arabisch-nationalistischen Baath-Regime unter Hafiz al-Assad und unter seinem Sohn Bashar al-Assad blieben die meisten Drusen weitgehend loyal. Zwar fanden sich unter ihnen wenige begeisterte Regime-Anhänger und spielten Drusen auch keine wichtige Rolle im Regime, allerdings gelang es dem Regime immer wieder die religiösen Minderheiten des Landes mit ihrer Angst vor einer sunnitischen Machtübernahme zur Loyalität zu zwingen. Ähnlich wie Christen und ismailitische Schiiten schien auch den meisten Drusen das stark von Angehörigen der religiösen Minderheit der Alawiten getragene Regime als das geringere Übel, als eine Machtübernahme sunnitischer Islamisten.

Die Aufstände des syrischen Zweigs der Muslimbruderschaft von 1979 bis 1982 schürten die Angst der religiösen Minderheiten. Am 16. Juni 1979 hatten Muslimbrüder in Aleppo beim "Massaker an der Artillerieschule" 50 alawitische Kadetten gezielt getötet und bildeten danach eine Untergrundgruppe mit über 1.000 Kämpfern unter Ali Sadr as-Din al-Bayanuni auf. Nach einem Attentatsversuch auf Hafiz al-Assad 1980, ließ dessen Bruder wiederum in einem Massaker im Gefängnis von Tadmor gezielt hunderte Muslimbrüder ermorden. "Gesetz Nr. 49" stellte die Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern unter Todesstrafe. Diese antworteten mit einer Serie von Anschlägen, die sich teilweise gegen religiöse Minderheiten richteten. Nachdem am 2. Februar 1982 die Moscheelautsprecher in der Stadt Hama zum Dschihad aufgerufen hatten, ließ Assads Bruder dort ein Massaker verüben, bei dem mindestens 10.000, möglicherweise aber bis zu 40.000 Menschen ums Leben kamen.

Das Regime wusste diese Unruhen jedoch geschickt zu nutzen und schürte bewusst die Angst unter den religiösen Minderheiten, dass die Alternative zum Regime eine Machtübernahme sunnitischer Islamisten wäre, die die Freiheiten der Minderheiten massiv einschränken, wenn nicht sogar deren Zwangsbekehrung durchsetzen würden. Diese bewusst kultivierte Angst bildete den Grundstock der Loyalität der religiösen Minderheiten gegenüber dem Regime.

Entwicklung ab 2011

Erneut virulent wurde diese Angst mit Beginn der Proteste in Syrien 2011, die im sunnitischen Dar'ā, nur etwa 30 Kilometer westlich von Suweida ihren Ausgang nahmen. Dar'ā galt schon vor 2011 als sehr konservative Stadt und beherbergte eine aktive salafitische Szene. Schon im Frühling 2011 griff ein lokaler salafistischer Imam in Dar'ā die Drusen der Nachbarprovinz in einer online verbreiteten Predigt verbal mit harschen Worten an. Das Video in dem auch das Andenken an Sultan al-Atrasch verunglimpft wurde, trug mit dazu bei, dass Teile der drusischen Gemeinschaft der syrischen Revolution gegenüber feindlicher eingestellt waren.

Zwar kam es auch in Suwaida zunächst zu Demonstrationen gegen das Regime. Diese blieben allerdings relativ klein. Dem Regime gelang es mittels regimetreuer drusischer Kommandanten, wie Issam Zahar ad-Din, das Gebiet unter Kontrolle zu behalten. Suwaida selbst wurde nie Schauplatz des Bürgerkriegs. Die immer stärkere Rolle islamistischer und dschihadistischer Gruppe in der syrischen Opposition, trug das ihre dazu bei, dass sich die Drusen überwiegend hinter das Regime stellten.

Dabei wurde die Region aber nicht direkt vom Regime verwaltet, sondern von lokalen drusischen Milizen, die vom Regime unterstützt wurden. Diese waren jedoch nicht nur dem Regime gegenüber loyal, sondern auch der eigenen Bevölkerung. Eine wichtige Rolle spielte dabei der lokal stark verankerte Kommandant Wahid al-Bal'us, dessen al-Karama("Würde")-Milizen teilweise die Kontrolle über das Gebiet ausübten und die Drusen gegen islamistische Angriffe verteidigten. Wahid al-Bal'us dürfte dem Regime jedoch zu eigenständig geworden sein. 2015 fiel er jedenfalls einem bis heute nicht ganz geklärten Bombenanschlag zum Opfer. Im Februar 2017 wurde schließlich Sheikh Abu Hassan Yahya al-Hajjar zum neuen Kommandanten der al-Karama Milizen ernannt. Im Juli 2018 kam es zu Angriffen der Dschihadisten des "Islamischen Staates" auf drusische Dörfer auf der Ostseite der Region, was das Vertrauen in die Verteidigungsfähigkeit der regierungsnahen Milizen teilweise erodieren ließ.

Vor allem aber wurden in der Folge Risse zwischen den drusischen Milizen und dem Regime sichtbar. Hochrangige Mitglieder der al-Karama Bewegung beschuldigten das Regime hinter den Angriffen des IS zu stehen oder diese zumindest zugelassen zu haben. Im Mai 2019 kam es zu internen Kämpfen innerhalb der al-Karama Milizen. Immer deutlicher wurde, dass die auf Angst basierende Loyalität zum Regime zu bröckeln begann.

Ruhe vor dem Sturm?

Auf dem Jabal Druz blieb es trotz dieser kleineren Konflikte vergleichsweise ruhig. Anders als in vielen Teilen Syriens wurde hier nicht die Bevölkerung großflächig vertrieben. Zugleich kamen aber auch relativ wenige Flüchtlinge aus anderen Teilen des Landes in die drusischen Gebiete. Auch Sunniten aus Dar'ā brachten sich während der dortigen Kämpfe in Suwaida in Sicherheit und wurden freundlich aufgenommen. Manche Männer, die sich bei Protesten und Kämpfen in Gefahr brachten, brachten ihre Frauen und Kinder im relativ sichereren Suwaida in Sicherheit.

Man kann also auch hier nicht wirklich von einem konfessionellen Konflikt reden. Die kleine Gruppe islamistischer Kämpfer, die vom Regime nicht nur ausgeschlachtet wurde, sondern durch die Freilassung inhaftierter Jihadisten noch verstärkt wurde, förderte allerdings die Angst vor jihadistischen Angriffen. Dies ist der Hintergrund für die relative Ruhe, die es hier abseits der Kämpfe lange Zeit gab. Die Sozialstrukturen blieben damit in Suweida und den drusischen Bergdörfern intakter als in anderen Teilen Syriens. Genau dies war allerdings die Voraussetzung dafür, dass sich die Bevölkerung hier überhaupt organisieren konnte, als die Lebensbedingungen unter der Last des Krieges und des wirtschaftlichen Embargos immer unerträglicher wurden.

Unter den Drusen am Jabal Druz gibt es keinerlei separatistische Bewegungen. Das Beispiel Nord- und Ostsyriens, wurde aber schon seit geraumer Zeit diskutiert und die Idee einer Dezentralisierung Syriens ist heute keineswegs ein Tabu. Vor allem aber sind es die zunehmend unerträglichen ökonomischen Bedingungen, die die Drusen immer stärker gegen das Regime aufbrachten.

Demonstrationen ab 2020

Im Juni 2020 kam es in Suwaida erstmals nach 2011 wieder zu größeren oppositionellen Demonstrationen. Dabei wurde der Sturz des Regimes und der Rücktritt Assads gefordert. Elf junge Aktivisten wurden in der Folge inhaftiert. Die al-Karama Bewegung versuchte in der Folge zwischen DemonstrantInnen und Regime zu vermitteln, kritisierte in einem Statement willkürliche Festnahmen und erklärte auf der Seite der Meinungsfreiheit zu stehen. Drei der Verhafteten wurden in der Folge vom Regime den al-Karama Milizen übergeben und in der Folge freigelassen. Für die anderen Verhafteten wurden nur vage Versprechungen abgegeben.

Die wachsende Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen der Bevölkerung wurde auch durch die kriegsbedingte Isolation der Region verursacht. Während es im sunnitischen Dar'ā zwei Grenzübergänge nach Jordanien gibt, über den Waren nach Syrien gebracht und Personen ein- und ausreisen können, gibt es dies von Suweida aus nicht. Der lange Umweg über Dar'ā ist angesichts der vielen Checkpoints und Milizen aber gefährlich und wird von den Drusen aus Suweida kaum genutzt.

Aktuelle Entwicklungen

Am 17. August 2023 begannen schließlich in Suweida Proteste gegen die Lebensbedingungen in der Region, die rasch dazu übergingen, auch den Rücktritt des Regimes zu verlangen. Die Demonstrationen in der Provinzhauptstadt wuchsen rasch an und wurden von den lokalen drusischen Milizen nicht behindert. Am 20. August gingen bereits tausende auf die Straße. Am 24. August griffen die Proteste auch auf Städte außerhalb des Jabal Druz über. Für das Regime besonders bedrohlich war die Beteiligung von Alawiten, also jener Religionsgemeinschaft, der auch die Herrscherfamilie angehört.

In den meisten dieser Regionen wurden die Proteste allerdings bald brutal zerschlagen – nicht so in Suweida. Hier intensivierten sich die Proteste im Laufe des Septembers. Dabei spielte auch eine Rolle, dass sich mit Sheikh Hikmat al-Hajari der wichtigste religiöse Führer der Drusen in Syrien hinter die Proteste stellte und die Forderungen der Bewegung unterstützte.

Sheikh Hikmat al-Hajari wurde immer mehr zur Symbolfigur der neuen Proteste. Auch wenn er teilweise untertauchen musste, blieb er in der Region und wird von der Bevölkerung unterstützt. Schließlich bekamen die Proteste auch zunehmend internationale Aufmerksamkeit. Bereits im September wurde Sheikh Hikmat al-Hajari von hochrangigen US-Vertretern kontaktiert. US-Karrierediplomat Ethan Goldrich vom Bureau of Near Eastern Affairs erklärte öffentlich, es wäre unerlässlich, "die Suweida-Bewegung gegen die syrische Regierung zu unterstützen."

Tatsächlich ist es nicht nur bemerkenswert, dass die Protestbewegung schon ganze vier Monate andauert und bislang sich weder tot gelaufen hat, noch vom Regime zerschlagen wurde. Die Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort vermeiden bewusst jede Militarisierung. Es wird weiterhin mit friedlichen zivilen Protestcamps und Demonstrationen gegen das Regime protestiert. Dieses hatte wohl zunächst die Absicht die Proteste auszusitzen und gehofft mit einer Blockade von Heizmaterial und Strom, die Bevölkerung in die Knie zwingen zu können. Spätestens im Winter, so diese Überlegungen, würden die Proteste dann enden.

Protest trotz prekärer Bedingungen

Tatsächlich ist die Situation durch die Blockade der Regierung nun besonders prekär geworden. Allerdings hat dies nicht zu einer Aufgabe der Proteste geführt. Versuche des Regimes einen Keil zwischen verschiedene Fraktionen der Drusen zu treiben und einen bewaffneten innerdrusischen Konflikt herbeizuführen, sind bislang gescheitert.

Die Proteste, die mit der Unzufriedenheit mit der Hyperinflation und ihren wirtschaftlichen Folgen begonnen haben, sind längst politisch geworden und verlangen nichts weniger als einen Regimewechsel. Assad gilt auch hier als Totengräber Syriens und gerade deshalb will man im Kernland der Syrischen Revolution der 1920er-Jahre das Regime stürzen.

Während in anderen Teilen Syriens der Krieg andauert, findet hier am Jabal Druz eine gewaltfreie Protestbewegung statt, die trotz des Winter- und Kälteeinbruchs und trotz Energieblockade durch Damaskus bislang ausharrt, zentrale Plätze besetzt und wöchentliche Demonstrationen abhält.

Sheikh Hikmat al-Hajari im österreichischen Parlament

Vergangene Woche war Sheikh Hikmat al-Hajari auch erstmals im österreichischen Parlament zu hören. Auf Einladung der außenpolitischen Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, versammelten sich mehrere Abgeordnete der Grünen, der SPÖ und der Neos um den Ausführungen des aus Syrien zugeschalteten Sheikh zu lauschen und ihm Fragen zu stellen.

Dabei wies Sheikh Hikmat al-Hajari sowohl auf die politische Repression als auch auf die Lebensbedingungen hin und forderte die europäischen PolitikerInnen dazu auf, einerseits die Sanktionen gegen das Regime zu verstärken und andererseits sich für einen Grenzübergang Suweidas gegenüber Jordanien einzusetzen. Dieser könne auch von den eigenen drusischen Kräften kontrolliert werden.

Die von Vertretern der drusischen Community in Wien vermittelte Begegnung mit österreichischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern stellt allerdings erst einen ersten Schritt dar, diesem angesichts des Krieges um Gaza völlig in Vergessenheit geratenen Konflikt wieder verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken. (Thomas Schmidinger, 22.12.2023)