Wer, wenn nicht er? Magnus Carlsen geht natürlich als Favorit ins Turnier.
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Endlich dreht sich wieder einmal alles um ihn. Magnus Carlsen kennt es kaum anders: Zehn Jahre lang war er Weltmeister im klassischen Schach, die Weltrangliste führt der 33-Jährige nach wie vor deutlich an. Aber Carlsen hat seinen Titel im Spiel mit langer Bedenkzeit dieses Jahr kampflos abgetreten. Ding Liren wurde mit einem Match-Sieg über den Russen Jan Nepomnjaschtschi sein direkter Nachfolger und erster chinesischer Schachweltmeister.

Seither fragen sich Beobachter: War das der Anfang vom Karriereende Magnus Carlsens? Wird dem Mann, der die Schachwelt im letzten Jahrzehnt fast nach Belieben dominierte, vielleicht bald gänzlich die Lust auf 64 Felder vergehen?

Liebe zur Geschwindigkeit

Dagegen spricht zuerst und vor allem: die Dominanz, die Carlsen nach wie vor entfaltet, wenn er sich unter den Bedingungen kürzerer Bedenkzeit ans Schachbrett setzt. Den Schnellschach-WM-Titel hat er insgesamt viermal, den Blitztitel sogar schon fünfmal geholt. Aktuell ist der Norweger Weltmeister in beiden Disziplinen, weil ihm 2022 im kasachischen Almaty das Double gelang.

Und auf nichts weniger als die Wiederholung dieses Doppelsieges ging Carlsen am Dienstag auch im usbekischen Samarkand los. Dass das kein Spaziergang wird, verraten schon die Eckdaten der Veranstaltung: Weit über hundert Großmeister sind jeweils für die offenen Bewerbe im Schnell- und Blitzschach gemeldet, in denen 13 beziehungsweise 21 Runden zu absolvieren sind – an nur fünf Matchtagen bis 30. Dezember. Das ist eine Ochsentour, selbst für turniergestählte Profis. Denn gefordert ist neben enormer Ausdauer eben auch Geschwindigkeit: Im Schnellbewerb wird mit 15 Minuten Bedenkzeit plus zehn Sekunden Zugbonus gespielt, beim Blitzen zockt man gar mit nur drei Minuten plus zwei Sekunden.

Dass Carlsen diese Art rasanten Schachs mittlerweile mehr Spaß macht als das klassische lange Brüten, hat einen nachvollziehbaren Grund: Während die Gegner des Norwegers mit genügend Bedenkzeit auf Basis tiefer Eröffnungsvorbereitung oft erfolgreich auf Remis mauern, fliegen in den Speed-Disziplinen die Fetzen. Die geringere Remis-Quote bedeutet mehr Siege für den stärkeren Spieler – und der heißt unter Sterblichen nun einmal in aller Regel Magnus Carlsen.

Nach einem Auftaktremis erreicht der Top-Favorit im Schnellschachturnier denn auch rasch Betriebstemperatur und liegt mit 3,5 aus 4 so ziemlich im Plansoll.

Jugend und Routine

In Samarkand sind aber auch eine Reihe Spieler am Start, die sich gute Chancen ausrechnen, Carlsens Dominanz endlich zu brechen. Da wäre etwa Nodirbek Abdusattorov, der dem Norweger den Schnellschach-Titel bereits 2021 mit damals erst 17 Jahren wegschnappte und als Usbeke über Heimvorteil verfügt. Und auch die Inder Dommaraju Gukesh (17), Rameshbabu Praggnanandhaa (18) und Arjun Erigaisi (20), die im vergangenen Jahr allesamt den Sprung in die Weltspitze schafften, würden Carlsen nur zu gerne beweisen, dass Jungspunde am Brett einfach schneller sind als "thirty-somethings".

Nur sind Letztere noch lange nicht abgemeldet: Fabiano Caruana (31) führt als Nummer zwei der Weltrangliste die Riege der Routiniers an, die Carlsen in Samarkand herausfordern werden. Ein anderer US-Amerikaner fehlt dagegen etwas überraschend: Blitz-Gott Hikaru Nakamura (36), seines Zeichens Schach-Streamer und der Einzige, der Carlsen in den vergangenen Jahren im Spiel mit ganz kurzer Bedenkzeit immer wieder Paroli bieten konnte.

Und wo ist Ding Liren? Seit der Chinese im Frühjahr Weltmeister im klassischen Schach wurde, ward er nur noch ein einziges Mal in einem Turniersaal gesichtet. Auch in Samarkand fehlt der Champion in der Teilnehmerliste. So rar dürfte sich seit dem legendären Bobby Fischer kein Weltmeister mehr gemacht haben – und daran, wie das endete, will sich Ding hoffentlich kein Vorbild nehmen.

Parallelbewerbe

Bei den Frauen verteidigt die Kasachin Bibissara Assaubajewa in Samarkand ihre Blitz-WM-Titel der Jahre 2021 und 2022. Im Schnellschach geht die Chinesin Tan Zhongyi als Titelverteidigerin ins Rennen. Spielerinnen können grundsätzlich im offenen Bewerb oder im parallel ausgespielten Frauenturnier antreten. In Letzterem ist die Konkurrenz allerdings deutlich weniger stark, was die Chancen auf eine gute Platzierung und ein damit verbundenes Preisgeld massiv erhöht.

Wohl ein fragwürdiges Anreizsystem: Während die Ungarin Judit Pólgar vor 20 Jahren auf Augenhöhe mit der männlichen Elite spielte, ist aktuell keine Frau mehr unter den top 100 der offenen Rangliste. (Anatol Vitouch, 26.12.2023)