Das IGH-Richtergremium (rechts) eröffnete in Den Haag das Verfahren, das Südafrika gegen Israel anstrengt.
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Die Ausführungen der südafrikanischen Juristen vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag dauerten über drei Stunden lang. Und sie fassten zum Auftakt der Anhörung der Völkermordklage gegen Israel in bedrückender Detaildichte das enorme Leid der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen zusammen. Sie gingen auf die israelische Kriegsführung gegen die Terrororganisation Hamas ein, reihten volksverhetzende Aussagen israelischer Politiker und Militärs aneinander.

So sagte Anwältin Adila Hassim, die von den Angriffen Israels betroffenen Palästinenser hätten "keinen sicheren Zufluchtsort". Sie würden in ihrem Zuhause getötet, aber auch an Orten wie Krankenhäusern, Schulen oder Moscheen. Palästinenser seien getötet worden, wenn sie israelischen Evakuierungsanordnungen nicht Folge geleistet hätten; aber auch dann, wenn sie sich an von Israel als sicher ausgewiesene Orte begeben hätten.

"Ein Prozent ausgelöscht"

"Zum jetzigen Stand wurde ein Prozent der Gesamtbevölkerung in Gaza systematisch ausgelöscht", so Tembeka Ngcukaitobi, ein weiterer südafrikanischer Jurist. Jeder vierte Bürger sei verletzt worden. Allein diese Statistiken würden ausreichende Beweise für die Absicht Israels liefern, einen Völkermord zu begehen. Die Glaubwürdigkeit der aus dem Gazastreifen vermeldeten Todeszahlen, so sei angemerkt, ist umstritten. Fachleute gehen aber eher von einer Unter- als Überschätzung der Opferzahlen aus.

Die israelische Regierung hat die Vorwürfe scharf zurückgewiesen und erklärt, der Kampf gegen die Extremisten sei nach deren großflächigem Terroranschlag auf Israel vom 7. Oktober ein Akt der Selbstverteidigung. Artikel 51 der UN-Charta setzt das im Völkerrecht geltende Gewaltverbot außer Kraft und betont im Falle eines bewaffneten Angriffs "das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung". Das Land hat ebenfalls ein großes Anwaltsteam zusammengestellt. Es bekommt am Freitag die gleiche Redezeit vor Gericht.

Auch dann wird mit Protesten gerechnet. Vor dem Gerichtsgebäude, dem Friedenspalast, hatte die niederländische Polizei am Donnerstag Probleme, demonstrierende Anhänger Israels und Unterstützer der palästinensischen Bevölkerung auseinanderzuhalten. Die womöglich bereits innerhalb weniger Tage zu beantwortende Frage für das Gericht lautet, ob die Juristen Südafrikas ausreichend stichhaltige Anhaltspunkte für eine Völkermordabsicht geliefert haben, mit der sich die beantragte einstweilige Anordnung zur Einstellung der Kampfhandlungen rechtfertigen lässt. Eine mögliche Hauptverhandlung könnte hingegen Jahre dauern.

Bei diesem Szenario würde der große internationale Druck auf Israel noch einmal deutlich steigen. Doch die rechtlichen Hürden im Völkerrecht für den Nachweis einer Völkermordabsicht sind generell hoch. Als wahrscheinlicher gilt unter Experten eine diplomatisch weniger gewichtige Anordnung, die den Schutz der Zivilbevölkerung betont.

Südafrika bekam im Vorfeld der Anhörung einigen Zuspruch, unter anderem von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, der 57 Staaten angehören. Auch Malaysia, die Türkei, Jordanien, Pakistan und Bolivien begrüßten die Klage. Südafrika gilt als einer der lautstärksten Verfechter einer "neuen Weltordnung" mit einer Verschiebung zugunsten der Brics-Staaten, zu denen Südafrika gehört. Besonders mit Israels engstem Verbündeten, den USA, kriselten die Beziehungen zuletzt.

Nähe auch zu Russland

Südafrika hatte nach Beginn des Ukrainekriegs eine schon fast demonstrativ anmutende Nähe zu Russland gezeigt. Erst in der zweiten Jahreshälfte von 2023 korrigierte Südafrika seine Außenpolitik etwas. Bei einer Friedensinitiative im Ukrainekrieg verwies Präsident Cyril Ramaphosa gegenüber Russlands Wladimir Putin auf die Einhaltung der UN-Charta. Kurz darauf teilte seine Regierung nach langem Zögern mit, dass Putin bei einem Brics-Gipfel mit der Verhaftung rechnen müsse – Putin blieb letztlich zu Hause.

Dennoch stand lange die Verlängerung des Freihandelsabkommens Agoa, das wichtigen südafrikanischen Produkten zollfreien Zugang zum US-Markt garantiert, vor dem Aus. Die Wogen haben sich etwas geglättet, aber die Verlängerung des im Jahr 2025 auslaufenden Abkommens ist nicht sicher. Für Südafrikas Wirtschaft gilt diese Frage aber als enorm wichtig. (Christian Putsch aus Kapstadt, 11.1.2024)