Die sozialen Medien kontrollieren immer mehr den Zugang zu Medien.
IMAGO/Jonathan Raa

Eine der erstaunlichen Entwicklungen im Konflikt zwischen Israel und der Hamas ist die altersabhängige Polarisierung. In den USA ergaben Umfragen, dass jüngere Menschen Israel als Unterdrücker betrachten und weitaus mehr als ältere der Ansicht sind, dass das durch die Hamas verübte Massaker an Israelis am 7. Oktober gerechtfertigt ist. Warum diese Polarisierung nach Generationen? Eine Antwort liegt in der Art, wie Menschen unterschiedlichen Alters ihre Nachrichten beziehen.

Eine Studie des Reuters Institute der Universität Oxford in 46 Ländern hat ergeben, dass nur noch 23 Prozent der Menschen Nachrichten direkt von klassischen Medien beziehen. Der Rest bezieht sie via Facebook, Tiktok, Google und andere "Torwächter". Diese bestimmen mit ihren Algorithmen, welche Nachrichten die meisten Menschen lesen. Die sozialen Medien kontrollieren also den Zugang zu Medien.

Während Facebook älteres Publikum hat, spricht das einem chinesischen Unternehmen gehörende Tiktok jüngere Menschen an – fast 80 Prozent der über einer Milliarde Nutzerinnen sind unter 35. Axios berichtete Ende Oktober, dass auf Tiktok weltweit 210.000 Beiträge mit dem Hashtag #StandWithPalestine, aber nur 17.000 mit dem Hashtag #StandWithIsrael veröffentlicht wurden. 87 Prozent des Publikums, das für #StandWithPalestine postete, war unter 35 gegenüber 66 Prozent, die #StandWithIsrael posteten.

Desinformation auf Tiktok

Selbst eine flüchtige Betrachtung von Tiktok-Videos und "Photo Mode"-Galerien zeigt eklatant antisemitische und gewaltverharmlosende Inhalte. Der Zuschauer sieht einen winzigen Ausschnitt der Welt, die schrecklichsten Verhaltensweisen einer Konfliktpartei, die er intolerabel findet; so eskaliert die Empörung. Die New York Times berichtete vergangenen Monat über eine Umfrage zu Präsident Joe Bidens Vorgehen in Gaza: "Diejenigen, die sich als regelmäßige Nutzer von Tiktok bezeichnen, waren in ihrer Kritik am kompromisslosesten." Menschen geben Eindrücken den Vorzug vor systematischen Daten, und diese Neigung wird hier als Dienst gern angenommen. Autokraten in Russland, China und anderswo lesen die Daten natürlich aufmerksam. Da die direkte Konfrontation mit dem Westen teuer und riskant ist, nutzt man eine billige Alternative, die schon aus Streit um Asterix bekannt ist: Einen starken Gegner kann man besiegen, wenn man Zwietracht sät und seinen inneren Zusammenhalt zersetzt. Desinformation auf Tiktok ist ein Hebel dafür.

Für den Geheimdienst Wladimir Putins fällt das unter die aus dem Kalten Krieg stammende Kategorie "aktive Maßnahmen". Es ist wahrscheinlich, dass billige, KI-generierte Propaganda zur Destabilisierung der USA und der EU das Ausmaß und die Wirkung solcher Kampagnen noch erheblich verstärkt.

Algorithmen sozialer Medien sind harmlos, wenn sie Katzenvideos populär machen. Wenn sie aber die täglichen Nachrichten mit massenhaft produzierter Propaganda infiltrieren, schädigen sie unsere Fähigkeit, als Menschen zusammenzuleben, ernsthaft. Wir müssen soziale Medien gesetzlich endlich ohne Einschränkung für ihre Inhalte verantwortlich machen – wie das bei anderen Medien schon seit Jahrhunderten der Fall ist. (Veit Dengler, 15.1.2024)