Leerer Sessel  auf Gehsteig vor leerem Straßenzug
Ein ausgestorbener Straßenzug in Jackson, Mississippi. In den vergangenen Jahren gab es in der Stadt wiederholt Wassermangel, weil die Infrastruktur nicht mehr ausreichend gewartet wird.
AP Photo/Rogelio V. Solis

Detroit war lange Zeit so etwas wie ein Symbol des urbanen Niedergangs. Die größte Stadt in Michigan, USA, hat heute rund 650.000 Einwohner. Das ist etwa ein Drittel der Bevölkerung, die es in den 1950er-Jahren hatte. Was passiert, wenn ganze Stadtteile verwahrlosen, ist aber nicht nur in der ehemaligen Motor City, sondern an vielen US-amerikanischen Orten sichtbar. Die Menschen ziehen in Vororte, die von Wolkenkratzern geprägten Innenstädte verfallen, Geschäfte schließen, die wenig genutzte Infrastruktur wird kaum erhalten, Kriminalität macht sich breit. Durch die Corona-Pandemie, seit der noch mehr Bürotürme leer stehen, hat sich die Situation vielerorts weiter verschärft.

Dieser Trend zur Geisterstadt wird sich weiter durchsetzen – auch in Städten, die sich im Moment noch im Wachstum befinden, wie aus einer im Fachjournal "Nature Cities" publizierten Studie hervorgeht. Etwa 15.000 US-Städte, darunter Cincinnati, Pittsburgh oder Buffalo, werden bis zum Jahr 2100 massiv an Bevölkerung verlieren, im Schnitt um zwölf bis 23 Prozent, lautet eines der Ergebnisse. Betroffen sei knapp die Hälfte aller Orte in den gesamten USA, wobei der Nordosten und Mittelwesten am stärksten unter der urbanen Depopulation leiden werden. In den Bundesstaaten Vermont und West Virginia könnten 80 Prozent der Städte schrumpfen. Allein Hawaii und Washington, D.C. seien vom urbanen Bevölkerungsschwund ausgenommen.

Wasserknappheit

"Die Art, wie wir heute Städte planen, beruht auf Wachstum, aber fast die Hälfte der US-Städte schrumpft", sagte Sybil Derrible, einer der Studienautoren von der Universität Illinois in Chicago, im "Scientific American". "Wir müssen von dieser wachstumsbasierten Planung wegkommen, was einen enormen kulturellen Wandel in der Stadtentwicklung bedeuten wird." Der Bevölkerungsrückgang könnte dazu führen, dass grundlegende Infrastruktur in den Städten wie öffentlicher Verkehr, Wasserversorgung, Elektrizität, Müllentsorgung und Internetzugang immer schwerer aufrechterhalten werden können, warnen die Forschenden. Weil die Behörden nicht genug in die Wartung der Infrastruktur investiert haben, ist es etwa in Jackson, Mississippi, oder Flint, Michigan, schon wiederholt zu Wasserknappheit gekommen.

Ursprünglich wollte das Team rund um den Ziviltechnik-Doktoranden Uttara Stradhar herausfinden, welche Herausforderungen im Verkehrswesen auf die Städte in Illinois angesichts der alternden Bevölkerung zukommen. Öffentlicher Verkehr ist in den USA stark unterentwickelt und kaum auf ältere Menschen ausgerichtet. Aufgrund der ersten Ergebnisse weiteten sie die Analyse von Bevölkerungsdaten aus den Jahren 2000 bis 2020 auf das ganze Bundesgebiet aus und verknüpften sie mit fünf möglichen Zukunfts- und Klimaszenarien. Die vom Weltklimarat definierten SSP-Szenarien modellieren demografische, soziale und ökonomische Veränderungen bis 2100, abhängig vom Ausmaß der globalen Erwärmung. Dabei nahmen sie nicht nur die Metropolen, sondern jegliche Agglomeration, also auch kleinere Orte und Städte, in den Blick.

Ärmere Städte schrumpfen eher

Der Analyse zufolge verlieren derzeit 43 Prozent der etwa 24.000 US-Städte Einwohner. 40 Prozent befinden sich im Wachstum, darunter Großstädte wie New York City, Chicago, Phoenix und Houston. In Zukunft wird die Zahl der schrumpfenden Städte auf etwa 50 Prozent wachsen, beim Klimaszenario SSP4, in dem große Herausforderungen bei der Anpassung an den Klimawandel angenommen werden, wären es gar 64 Prozent.

Stop-Schild an einer leeren Kreuzung, dahinter Einfamilienhäuser
Eine Kreuzung in Detroit. Die Stadt galt lange als Symbol des Niedergangs und der Entvölkerung.
AP Photo/Mike Householder

Generell würden sich die meisten Städte, die bis 2100 an Bevölkerung zulegen, im Süden oder Westen befinden. Städte mit niedrigeren Einkommen, wie sie sich häufig im Nordosten und Mittleren Westen befinden, würden eher schrumpfen als reiche Städte. Zudem würden dichtbesiedelte Städte, in denen ein hoher Anteil an Zuwanderern lebt, eher wachsen, so die Projektion.

Ist in Europa Ähnliches für die Zukunft zu erwarten? "In den USA waren die Zu- und Abwanderungen aus Städten immer stärkeren Fluktuationen unterworfen, meist als direkte Folge ökonomischer Faktoren", sagt der Demograf Wolfgang Lutz dem STANDARD. "Die Amerikaner sind einfach daran gewöhnt, in ihrem Leben häufiger umzuziehen als die Europäer, die stabiler sind und auch bei einem Jobwechsel häufiger pendeln, als gleich woanders hinzuziehen."

Europa weniger betroffen

Über die Gründe für die Depopulation können die Studienautoren nur spekulieren: Erfahrungsgemäß handelt sich um einen komplexen Mix aus steigenden Wohnkosten, Niedergang von Industriestandorten, niedrigeren Geburtenraten, verschiedenen Finanzierungsformen für Infrastruktur und dem Einfluss des Klimawandels auf das Leben in Städten.

Mit den Konsequenzen des Bevölkerungsrückgangs sind viele Teile der Welt konfrontiert. Zumindest für Europa ist Wolfgang Lutz, Bevölkerungsexperte am International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), optimistisch: "Die Folgen von Depopulation sind in den USA dramatischer als bei uns, da vieles mit den örtlichen Steuern bezahlt wird. So haben etwa die Schulen bei Schrumpfen der Bevölkerung viel weniger Geld. Bei uns wird das durch die zentrale Finanzierung viel besser ausgeglichen."

Inwieweit sich die Prognosen für die USA bewahrheiten, wird noch von vielen Faktoren wie beispielsweise klimabedingter Migration abhängen. Besonders Küstenstädte würden durch den Anstieg des Meeresspiegels bis 2100 zunehmend verwaisen, hat kürzlich eine Studie der Florida State University im Fachblatt "PNAS" festgestellt. Weil besonders junge Menschen ihre Heimatstädte an der Küste verlassen würden, komme es zu einer Beschleunigung der Überalterung und wiederum großen Herausforderungen für die Organisation des urbanen Lebens. Dabei wurden andere klimawandelbedingte Ereignisse wie Sturmfluten und Waldbrände gar nicht einbezogen. Die Stadtplanung wird sich jedenfalls einiges einfallen lassen müssen, um zu verhindern, dass die Zahl der Geisterstädte weiter steigt. (Karin Krichmayr, 21.1.2024)