Alexander Kudrjawzew
Der russische Pflanzengenetiker bei einem Vortrag vor einem theologischen Publikum. Seine Behauptungen gingen auch dem russischen Bildungsministerium zu weit.
Sretenski Geistliches Seminar / Youtube

Die Genetik hatte es in Russland in den letzten 90 Jahren nicht ganz leicht. Der Hauptschuldige dafür ist der Agrarwissenschafter Trofim Denissowitsch Lyssenko, der unter Stalin ab 1935 zur Schlüsselfigur in der sowjetischen Wissenschaft aufstieg. Aufgrund seiner Irrlehren sorgte er sowohl in der Landwirtschaft wie auch in der Genetik, die er als Pseudowissenschaft diskreditieren wollte, für Katastrophen.

Sein Glaube an die höchst umstrittene Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften bei der Getreidezucht und entsprechende Experimente führten zu Missernten und verschärften die damaligen Hungerkrisen. Exzellente sowjetische Pflanzengenetiker wie Nikolaj Wawilow hingegen, der von 1930 bis 1940 Direktor des Instituts für Genetik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau war, wurden von Lyssenko in den Tod getrieben. Andere Kapazunder wie Theodosius Dobzhansky waren bereits zuvor in die USA emigriert. Die Genetik hat sich davon bis zum Ende der Sowjetunion nicht erholt.

Mehr Farce als Tragödie

Nun wiederholte sich die Geschichte, immerhin eher als Farce denn als Tragödie – sowie ohne Tote. Und abermals wurde eine verquere Version der Vererbung erworbener Eigenschaften gepredigt. Es war diesmal allerdings nicht der Einfluss der Stalin'schen Ideologie, der den Humbug des Pflanzengenetikers Alexander Kudrjawzew beförderte, sondern eher jener der russisch-orthodoxen Kirche, die seit 1991 ihren Einfluss zunehmend auf die Wissenschaft ausdehnt und indirekt auch zu einer gewissen Renaissance von Lyssenko in Russland beitrug, wie der Harvard-Wissenschaftshistoriker Loren Graham bereits vor ein paar Jahren im Buch "Lysenko's Ghost" zeigte.

Diesmal wurde der Bogen aber wohl überspannt, weshalb das russische Bildungsministerium sich zu einer Absetzung veranlasst sah. Wie Nachrichtenagenturen in Ost und West in den vergangenen Tagen übereinstimmend vermeldeten, war Alexander M. Kudrjawzew, Leiter des nach Wawilow benannten Genetik-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, bereits im Juni 2023 vom Ministerium seines Amtes enthoben worden. Damals freilich noch ohne Angabe von Gründen. Die sind einigermaßen originell und wurden erst jüngst in den Agenturen und Medien nachgereicht.

Kudrjawzew
Screenshot des Researchgate-Eintrags von Kudrjawzew mit einem etwas älteren Foto.
Screenshot/Researchgate

Theologische Erklärungen

Kudrjawzew hatte im vergangenen März bei einem Vortrag in Minsk vor einem erstaunten Publikum unter anderem behauptet, dass Menschen früher einmal 900 Jahre alt geworden seien. Sünden hätten aber zu Mutationen und Erbkrankheiten geführt, die heute für den verfrühten Tod der Menschen verantwortlich seien. Zudem zeigte sich der 60-Jährige überzeugt, dass Kinder "bis zur siebenten Generation für die Sünden ihrer Väter verantwortlich sind".

Auf Nachfrage der Medien soll er gemeint haben: "Ich wollte den schädlichen Einfluss der sogenannten schlechten Gewohnheiten betonen – das, was Theologen Sünde nennen. Sie wirken sich auch auf das Genom aus. Wenn eine Mutation in Ihrem Körper, in Ihren Keimzellen auftritt, wird sie an Ihre Nachkommen weitergegeben, und Sie können nichts dagegen tun. Die Schlussfolgerung ist einfach: Wenn Sie gesunde Nachkommen haben wollen, sollten Sie keine schlechten Gewohnheiten entwickeln und nicht der Sünde verfallen.“

Was die Kirche dazu sagt

Der Leiter der Kommission für Familienfragen der russisch-orthodoxen Kirche, Fjodor Lukjanow, kritisierte Kudrjawzews Entlassung, wie Ria Nowosti berichtete und damit die rezente Berichterstattung lostrat. Er sei "wegen religiöser Überzeugungen und Äußerungen in Übereinstimmung mit diesen Überzeugungen" entlassen worden, was "gegen die Ethik der wissenschaftlichen Gemeinschaft" verstoße, so Lukjanow, der 2022 Putins Verbot von "Homo-Propaganda" unterstützt hatte. Nach diesem offensichtlichen Nonsens ergänze Lukjanow noch einen Satz, an dem immerhin wenig auszusetzen ist: "Wir haben bereits die Zeiten der Sowjetunion hinter uns, als die Genetik lange Zeit als Pseudowissenschaft galt." (Klaus Taschwer, 31.1.2024)