"Ich melde mich nur ab, wenn ich mit Fieber im Bett liege oder sehr starke Schmerzen habe. Wenn es weniger schlimm ist, fühle ich mich schlecht, nicht zur Arbeit zu erscheinen", erzählt Madeleine, die lieber anonym bleiben will. So wie ihr geht es vielen. Eine Umfrage der Arbeiterkammer aus dem Jahr 2023 ergab, dass neun von zehn befragten Angestellten krank in die Arbeit gingen.

Als Hauptgrund gaben sie an, dass das Team ansonsten unterbesetzt sei und sie die Arbeitskolleginnen nicht im Stich lassen möchten. "Ich habe auch Angst, dass meine Führungskraft mich sonst als schwach ansieht, mir nicht mehr so verantwortungsvolle Aufgaben gibt, oder vielleicht sogar mein Arbeitsplatz in Gefahr ist", sagt Madeleine. Gerade junge Menschen, das belegen auch Studien, litten unter diesen Schuldgefühlen, auch "sick guilt" genannt. "Sie haben oft ein sehr hohes Verantwortungsgefühl", sagt die klinische Psychologin Raphaela Plasch.

Mann sitzt verzweifelt und müde vor Laptop.
Wann sind die mentalen Belastungen so groß, dass eine Krankmeldung gerechtfertigt ist? Eine Expertin hat Antworten.
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Mentale Barrieren

Doch wann zieht man die Reißleine, wenn psychische Belastungen zu groß werden? Plasch sieht, dass sich ihre Kundinnen und Kunden schwertun, ihren mentalen Gesundheitszustand einzuschätzen. "Wenn man nicht mehr gut schlafen kann, das Gefühl hat, das Wochenende reicht zur Erholung nicht mehr, und auch während der Arbeit die Konzentration nachlässt, ist es allerhöchste Zeit, sich krankzumelden", rät sie.

Plasch erzählt auch, dass sie in den letzten Jahren mehrere Veränderungen in ihrer Arbeit mit Klienten erlebte. Während der Corona-Pandemie fiel es vielen leichter, sich krankzumelden, da eine Erkältung ein No-Go war und die Krankschreibung somit von außen legitimiert wurde. "Jetzt, ein paar Jahre später, ist das aber wieder rückläufig. Viele tun sich schwer, dass sie jetzt wieder mit der Beurteilung der Gesundheit auf sich selbst gestellt sind", sagt die Psychologin. Viele blieben nun im Homeoffice, wenn sie sich krank fühlen, und arbeiten dort weiter.

Führungskräfte als Vorbilder

Klar ist, dass krank Arbeitende nicht die beste Leistung abliefern. Im schlimmsten Fall verschleppen sie die Erkrankung oder stecken andere an. Es ist somit auch im Interesse des Managements die Schuldgefühle, die manche bei Krankheit gegenüber dem Arbeitgeber verspüren zu minimieren. Aber wie kann das funktionieren?

Führungskräfte spielen dabei eine große Rolle. "Mich rief die Führungskraft während der Krankheit an und beschwerte sich zusätzlich bei Kollegen über mich. Mein Chef arbeitet auch selbst fast immer, wenn er krank ist", erzählt Madeleine. Dieses Verhalten sei sehr schwierig, meint Plasch. "Die Führungskraft hat auch in dieser Hinsicht eine Vorbildfunktion", erklärt sie.

Schuldgefühle verhindern

Gemeinsam Normen und Verhaltensweisen im Team festzulegen und bei Krankheit die Aufgaben klar umzuverteilen sei hilfreich. Vertrauen im Team und ein positives Arbeitsklima trage dazu bei, dass Personen eher, zu Hause zu bleiben, wenn es ihnen schlechtgeht. Wenn beim Arbeitsprozess das gesamte Wissen und die Verantwortung nicht nur auf einem Teammitglied lasten, können diese im Krankheitsfall leichter vertreten werden.

"Was einfach klingt, wird in vielen Teams nur leider immer noch nicht gelebt, wie ich durch meine Arbeit feststellen muss", sagt Plasch. Aber schließlich liegt es auch an einem selbst, zu reflektieren, woher dieses Gefühl kommt. "Wer weniger Stress hat, dessen Immunsystem kann besser arbeiten", erklärt die Psychologin. Ein stressreduziertes Arbeitsumfeld zu schaffen kann deswegen sowohl die Krankheit als auch die Schuldgefühle minimieren. "Viele gehen auch zu früh wieder in die Arbeit. Nehmen Sie sich einen Tag oder mehr Zeit, um sich wieder 100 Prozent fit zu fühlen", rät Raphaela Plasch. Madeleine versucht zwar, bei Krankheit keine Schuldgefühle mehr zu haben, gelungen sei ihr das aber noch nicht. (Natascha Ickert, 5.4.2024)