Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im französischen Straßburg.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im französischen Straßburg: Ein wichtiger Fall für das Zusammenleben in Bosnien und Herzegowina soll hier in der Großen Kammer neu aufgerollt werden.
AFP/FREDERICK FLORIN

Es ist das historisch wohl wichtigste Urteil für den Staat Bosnien und Herzegowina: Als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vergangenen August dem Antragsteller Slaven Kovačević Recht gab, feierten die einen, die anderen überlegten indes sogleich, wie sie das Urteil bekämpfen könnten. Denn der EGMR stellte darin fest, dass die Verfassung von Bosnien und Herzegowina in einem fundamentalen Ausmaß nicht mit den Menschenrechten vereinbar ist.

Die Verfassung von Dayton aus dem Jahr 1995 schuf einen nach ethnischen und territorialen Gesichtspunkten gespaltenen Staat nach einem dreieinhalbjährigen internationalen Konflikt, in den die Nachbarstaaten Kroatien und Serbien involviert waren. Die damaligen politischen Führungen dieser Nachbarstaaten wollten Bosnien und Herzegowina, einen damals bereits unabhängigen Staat, der Mitglied der Vereinten Nationen war, durch den Krieg untereinander aufteilen.

Weil aber auch die "Friedensverhandler", ausländische Diplomaten insbesondere aus Großbritannien, auf die ethnisch-territorialen Wünsche dieser Nachbarstaaten und der Nationalisten innerhalb von Bosnien und Herzegowina eingingen, wurden bereits während des Krieges "Friedenspläne" vorgelegt, die eine ethnoterritoriale Spaltung des Landes vorsahen. Dayton war nur das Endprodukt. Die Bosnierinnen und Bosnier hatten diese Verfassung nicht vorgeschlagen, sie wurde ihnen von außen aufgedrückt. In dem Konstrukt gibt es keine Bürgerinnen und Bürger, sondern in erster Linie zu "Völkern" Zugehörige – Serben, Kroaten und Bosniaken. Das Land wurde zudem in zwei "Entitäten" geteilt. Die völkischen Nationalisten hatten sich also mit entscheidender Hilfe ausländischer Diplomaten durchgesetzt.

Einschränkung des Stimmrechts

Kovačević, der sich nicht zu einem der drei konstituierenden Völker zählt, argumentierte nun, dass er aufgrund der territorialen und ethnischen Anforderungen nicht für die Kandidaten seiner Wahl stimmen könne. Die Kandidaten, die seine politischen Ansichten am besten vertreten, würden nicht der "richtigen" Entität und/oder der "richtigen" ethnischen Herkunft angehören. Und er bekam Recht. Der EGMR stellte eine Verletzung des Rechts auf Nichtdiskriminierung fest. Niemand sollte "gezwungen werden, nur nach vorgeschriebenen ethnischen Grenzen zu wählen, ungeachtet seines politischen Standpunkts", so der EGMR.

Der EGMR hat bereits in fünf anderen Fällen – der älteste ist 15 Jahre alt – gefordert, dass die bosnische Verfassung geändert werden muss, weil Bürgerinnen und Bürger diskriminiert werden. So können auch weder Juden noch Roma ins Staatspräsidium gewählt werden. Keines der Urteile wurde umgesetzt. Nach massivem Lobbying seitens der kroatisch-nationalistischen HDZ, die in vielen Institutionen wie dem Europäischen Parlament, dem Europarat, der EU-Delegation in Sarajevo, aber auch dem Amt des Hohen Repräsentanten Christian Schmidt Unterstützer hat und im Nachbarstaat Kroatien die Regierungspartei stellt, wird nun sogar der Fall Kovačević vor der Großen Kammer des EGMR neu aufgerollt. Die Gegner des Urteils wollen es zu Fall bringen.

Im Dezember nahm der fünfköpfige Rat des EGMR den Antrag der "Bevollmächtigten" von Bosnien und Herzegowina, das Urteil im Fall Kovačević an die Große Kammer weiterzuleiten, ohne Widerspruch an. Insbesondere die Vorsitzende des Ministerrats von Bosnien und Herzegowina, Borjana Krišto von der HDZ, hatte sich dafür eingesetzt. Doch diese "Bevollmächtigten" handelten erstens ohne Zustimmung des Ministerrats von Bosnien und Herzegowina als Regierung der beklagten Partei, und zweitens war ihr Mandat längst abgelaufen. Der STANDARD hat beim EGMR angefragt, weshalb der Antrag trotzdem angenommen wurde. Der EGMR verwies lediglich darauf, dass der Antrag zu gegebener Zeit von der zuständigen Gerichtsinstanz geprüft wird. Auf die Frage der Gültigkeit des Mandats der Bevollmächtigten ging der EGMR nicht ein.

Andere Rechtsexperten denken, dass die staatlichen Bevollmächtigten durchaus rechtmäßig handelten: So meint etwa der Jurist Harun Išerić vom German Marshall Fund: "Es besteht kein Zweifel daran, dass die bosnischen Staatsbeamten im Rahmen ihres Mandats lagen, als sie einen Antrag auf Überweisung an die Große Kammer stellten. Sie waren dazu befugt und hatten im innerstaatlichen Recht eine Grundlage für solche rechtlichen Schritte.“

Umstrittene Haltung des Westens

Auch eine Anfrage an den Europarat seitens des STANDARD, ob die Generalsekretärin des Europarats, Marija Pejčinović Burić, eine HDZ-Politikern, die Kroatien vertritt, aber eigentlich aus dem Nachbarstaat Bosnien-Herzegowina kommt, mit den "Bevollmächtigen" von Bosnien und Herzegowina (Harisa Bavčić, Monika Mijić, Jelena Cvijetić) in der Causa Kovačević in Kontakt war beziehungsweise ob die politische Abteilung des Europarats in die Causa involviert war, blieb wochenlang unbeantwortet. Nach vier Wochen wurde dem STANDARD eine andere Frage von der Presseabteilung des Europarats beantwortet, doch die obengenannte Frage blieb weiter unbeantwortet.

Kovačević vermutet, dass Vertreter der HDZ und Kroatiens keine Beseitigung der Diskriminierung wollen, sondern das ethnisch gespaltene System beibehalten möchten, um weiterhin die Kontrolle über den Entscheidungsprozess in Bosnien und Herzegowina zu haben. Noch ist nicht bekannt, wann die Große Kammer über den Fall entscheiden wird. Jene Bosnier und Herzegowiner, die ein bürgerorientiertes, europäisches Land, in dem alle Menschen gleichgestellt sind, wollen – weil sie etwa auch den EU-Beitritt anstreben –, sind dementsprechend besorgt.

Unklar ist vor allem, weshalb es keine Unterstützung der EU, der USA oder anderer westlicher Akteure gibt, die die Umsetzung der Urteile des EGMR ernsthaft unterstützen. Bereits im Jahr 2006 verlangte die Parlamentarische Versammlung des Europarates, bis spätestens 2010 durch die Venedig-Kommission eine neue Verfassung für Bosnien und Herzegowina zu schaffen. Doch weil die Nationalisten so starke Vetorechte durch die von außen aufgedrückte Verfassung haben, war dies nicht möglich – und wird wohl auch in Zukunft nicht möglich sein.

Kein "echter Kroate"

Ein bosnischer Bürgerrat erarbeitete im Jahr 2022 eine Verfassungsreform, in der verlangt wurde, dass die nach Volksgruppen organisierte Parlamentskammer "Haus der Völker" abgeschafft werden soll. Denn das "Haus der Völker" ist oft bloß ein Machtinstrument für die Nationalisten. Doch die Ergebnisse des Bürgerrats, der von der EU unterstützt worden war, verschwanden schnell wieder in den Schubladen internationaler Diplomaten, die ganz offenbar weiterhin lieber die Nationalisten unterstützen und der HDZ entgegenkommen.

Wie sehr sich der Nachbarstaat Kroatien in bevormundend-hegemonialer Attitüde in die innenpolitischen Fragen von Bosnien-Herzegowina einmischt, war zuletzt im Jänner beim Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dem niederländischen Premier Mark Rutte und dem kroatischen Premier Andrej Plenković, ebenfalls HDZ, ersichtlich. Plenković weigerte sich nämlich, sich mit dem amtierenden Mitglied des Staatspräsidiums Željko Komšić zu treffen, weil dieser der HDZ zufolge kein "echter Kroate" ist. Komšić gehört nicht der HDZ an, wurde auch von Nichtkroaten gewählt und steht für ein bürgerorientiertes Bosnien und Herzegowina.

Die Weigerung von Plenković, sich mit dem völlig legitim gewählten und beliebten Bosnier Komšić zu treffen, führte zu einem diplomatischen Skandal in Sarajevo und wurde von vielen Bosniern und Bosnierinnen als Demütigung empfunden. Die Flagge Kroatiens musste wegen des Verhaltens von Plenković weggetragen werden. Auch europäische Diplomaten waren wegen des Verhaltens von Plenković "irritiert". (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 12.2.2024)