Anne L'Huillier hat ihre Forschungskarriere der Physik im Ultrakleinen verschrieben. Mit speziellen Lasern lässt sich die elektronische Struktur von Materie auf Größenskalen von Pikometern in Zeiträumen von Attosekunden auflösen. Davon leitet sich auch der Name Attosekundenlaser oder auch Attosekundenphysik ab. Das Verhältnis von einer Attosekunde zum menschlichen Herzschlag ist dasselbe wie jenes eines Herzschlags zur Lebensspanne des Universums.
Im Dezember wurde die französisch-schwedische Physikerin für ihre Beiträge mit dem Physiknobelpreis 2023 ausgezeichnet, gemeinsam mit dem ungarisch-österreichischen Physiker Ferenc Krausz und dem Franzosen Pierre Agostini. Nach Marie Curie (1903), Maria Goeppert-Mayer (1963), Donna Strickland (2018) und Andrea Ghez (2020) ist Anne L'Huillier die fünfte weibliche Physiknobelpreisträgerin. Kürzlich war sie zu Gast an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, um bei einer gemeinsamen Lecture mit dem Institute of Science and Technology Austria (Ista) Einblicke in ihre Nobelpreisforschung zu geben.
STANDARD: Es war in der Wissenschaft zunächst umstritten, ob die Entwicklung von Attosekundenlasern überhaupt möglich sein würde. Was hat Sie bewogen, sich auf dieses Forschungsfeld zu konzentrieren?
L'Huillier: Für mich war das eine natürliche Entwicklung meiner Forschung, die sich über fast 40 Jahre erstreckte. Ich bin zu diesem Gebiet gekommen, weil ich ursprünglich Atome mit starken Lasern untersucht habe. Dann ist Anfang der 90er-Jahre die Frage aufgekommen, ob es möglich sein könnte, sehr, sehr kurze Laserpulse zu erzeugen in der Größenordnung von Attosekunden. Das war natürlich eine unglaublich spannende Frage, zu der ich viele, viele Jahre geforscht habe.
STANDARD: Was waren für Sie die größten Herausforderungen, die es zu überwinden galt, auf dem Weg zu Attosekundenlasern?
L'Huillier: Die erste Herausforderung bestand darin, dass wir die Fachwelt überzeugen mussten, dass es Attosekundenpulse wirklich geben kann, und diese kurzen Pulse zu messen. Dazu haben meine beiden Co-Nobelpreisträger Pierre Agostini und Ferenc Krausz viel beigetragen, indem sie die ersten Messungen durchgeführt haben.
STANDARD: War das Verhältnis von Ihnen zu Agostini und Krausz stärker durch Zusammenarbeit oder durch Konkurrenz geprägt?
L'Huillier: Wir sind wie Kollegen. Wir waren alle Teil von europäischen Netzwerken und tauschten uns aus, aber natürlich gab es auch einen Aspekt von freundschaftlichem Wettbewerb. Ich würde aber sagen, dass die Zusammenarbeit und der Austausch überwogen haben gegenüber der Konkurrenz.
STANDARD: Attosekundenlaser sind auch sehr nützliche Werkzeuge für die Grundlagenforschung. Welchen fundamentalen Fragen können wir damit auf den Grund gehen?
L'Huillier: Eine fundamentale Möglichkeit ist, dass man sich die Bewegung von Elektronen damit ganz genau ansehen kann. Bei einfachen Atomen ist uns das bereits gelungen. Wir fangen nun an, das bei Molekülen und etwas komplexeren System durchzuführen. Generell stehen wir damit noch sehr am Beginn, aber ich bin mir sicher, dass es in dieser Hinsicht noch viel zu entdecken gibt.
STANDARD: Woran arbeiten Sie aktuell mit Ihrer Gruppe?
L'Huillier: Was ich für wirklich fundamental halte, ist der Versuch, Quanteneigenschaften der Materie mithilfe von Attosekundenlasern zu untersuchen. Dieser Ansatz stellt auch eine Verbindung zur Quantenformation dar. Diese Richtung schlagen wir ein, der Ansatz ist aber noch sehr neu.
STANDARD: Geht es dabei um die quantenphysikalische Welle-Teilchen-Doppelnatur der Materie?
L'Huillier: Ja, auch. Wir versuchen aber nicht nur das Wellenverhalten zu messen, sondern auch komplexe Prozesse darüber hinaus. Wir können die Zustände sehr genau messen und wollen die Quanteneigenschaften genau bestimmen.
STANDARD: Nicht nur für die Grundlagenforschung, sondern auch für potenzielle Anwendungen bieten Attosekundenlaser neue Möglichkeiten. Wie können sie in der Industrie eingesetzt werden?
L'Huillier: Es gibt eine Anwendung, die bereits in der Industrie eingesetzt wird. Dabei geht es weniger um die zeitliche Komponente von Attosekundenlasern, sondern um ihren Energiebereich. In der Halbleiterindustrie werden sie zur Messung und Überprüfung von Silizium-Wafern verwendet. Es geht dabei um die nächste Generation von Prozessoren und integrierten Schaltkreisen in einer Größe im Bereich von zehn Nanometern. Attosekundenlaser werden also bereits in der Industrie eingesetzt, das ist sehr aufregend.
STANDARD: Nachdem Sie erst die fünfte weibliche Nobelpreisträgerin sind, würde mich interessieren, wie Sie Ihre Rolle als Frau in der Physik reflektieren.
L'Huillier: Zunächst einmal denke ich, dass sich die Zeiten ändern, und es gibt inzwischen definitiv mehr Frauen in der Wissenschaft. Das ist eine sehr positive Entwicklung. Wenn ich überlege, wie sich mein Geschlecht auf meine eigene Karriere ausgewirkt hat, fällt die Antwort gemischt aus: Da ich sehr oft die einzige Frau gewesen bin, hat es meine Karriere sicherlich beeinflusst. Das war manchmal nicht nur negativ, sondern auch positiv, weil ich dadurch sichtbarer war oder von Frauenförderungsaktionen profitieren konnte.
STANDARD: Wollen Sie die Publicity durch den Nobelpreis nützen, um ein Vorbild für junge Frauen in der Wissenschaft zu sein?
L'Huillier: Ich habe das Gefühl, dass ich nicht wirklich eine Wahl habe. In meiner neuen Position als Nobelpreisträgerin und Frau habe ich die Verantwortung, Nachwuchsforscherinnen und junge Mädchen zu inspirieren, die in die Wissenschaft gehen wollen. Ich habe das Gefühl, dass ich diese Rolle jetzt übernehmen sollte, ob ich es will oder nicht – ich bin zu einem Vorbild in dieser Sache geworden. Daher fühle ich mich verantwortlich, bei diesem Thema einen Beitrag zu leisten. (Tanja Traxler, 28.2.2024)