Nach dem Skandal um die Begnadigung eines Helfers in Fällen von Kindesmissbrauch und dem darauffolgenden Rücktritt von Staatspräsidentin Katalin Novák hatte sich Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán zwei Wochen lang nicht substanziell zu der Causa geäußert. Am Samstag nutzte er dann aber eine "Rede zur Lage der Nation", um vor einer handverlesenen Menge von Politikern und prominenten Unterstützern seiner Fidesz-Partei seine Sicht der Dinge darzulegen.

Viktor Orbán
Viktor Orbán lavierte sich bei seiner Rede zur Lage der Nation durch die Affäre Novák.
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"Das Jahr 2024 hätte nicht schlechter beginnen können", eröffnete der Rechtspopulist seine Ansprache vor dem Hintergrund der schwersten Krise seiner seit 2010 andauernden Herrschaft. Die Staatspräsidentin habe ihren Rücktritt eingereicht. "Es ist wie ein Alptraum. Uns alle belastet es." Es folgten verbale Krokodilstränen für Novák, die Vorkämpferin für ein rückwärtsgewandtes Frauen-, Familien- und Kindeswohlbild, die er 2022 selbst ins höchste Staatsamt gehievt hatte.

Aber: Novák beging einen "Fehler". Mit der Begnadigung des rechtskräftig verurteilten Heimerziehers Endre K., der über viele Jahre hindurch den sexuellen Missbrauch seines Vorgesetzten an Kindern im Heim von Bicske zu vertuschen half und dabei die Opfer zu Falschaussagen nötigen wollte, habe Novák "die Einheit der Nation" beschädigt. "Es geschah, was geschehen musste." Dies gelte auch für die damalige Justizministerin Judit Varga, die Nováks Amnestierungserlass gegenzeichnete und zeitgleich mit der Präsidentin von allen politischen Ämtern zurücktrat – auch von der geplanten Listenführerschaft der Fidesz-Partei bei den Europawahlen im Juni. "Ihr Abgang ist eine unvermeidliche (…) Konsequenz der Gesetze des Staatslebens. Auch gute Leute treffen schlechte Entscheidungen."

Die Karawane zieht weiter

Aus Orbáns Sicht war es durchaus logisch, bis zum Zeitpunkt der schon seit längerem terminisierten Rede zu schweigen. Dem jährlichen Event dürfen nicht nur die Politiker des eigenen Lagers beiwohnen, sondern auch vom Regime abhängige Oligarchen, die Führungspersönlichkeiten der üppig finanzierten Regierungsmedien sowie am Tropf des Orbán-Systems hängende Kulturschaffende und Celebs. Vor dieser Zuhörerschaft gab der Autokrat die Losung aus: Die Konsequenzen sind gezogen, Schwamm drüber, die Karawane zieht weiter.

Doch weder Orbáns Ansprache noch Nováks Äußerungen bei ihrer Rücktrittsankündigung beinhalteten irgendeinen Hinweis darauf, warum Endre K. begnadigt wurde. Offenbar hatte sich der reformierte Bischof Zoltán Balog, der als Mentor Nováks gilt, aber zugleich mit Orbán befreundet ist, bei der Staatspräsidentin massiv für K. eingesetzt – wohl wegen dessen Vernetzung mit der reformierten Kirche. Balog trat am Freitag als Präsident der Synode von Ungarns zweitgrößter Glaubensgemeinschaft zurück. In Budapest vermutet man, dass Orbán von der Amnestierung gewusst hat. Er bestreitet es. Seine damalige Justizministerin, die ihm sehr nahe stand, hatte aber den Erlass der Präsidentin trotz anfänglicher Bedenken mit ihrer Unterschrift rechtswirksam gemacht.

Massendemo gegen Orbán in Budapest
Menschen demonstrieren mit ihren Handys auf dem Heldenplatz in Budapest, Ungarn, am 16. Februar 2024 gegen die Politik der Regierung Orbán.
AFP/ATTILA KISBENEDEK

"Viktor Orbáns Regime zerbröckelt unter dem Gewicht seiner eigenen Heuchelei", schrieb Katalin Cseh, Europaabgeordnete der liberalen Partei Momentum in einem Gastbeitrag für den britischen "Guardian". Denn über Jahre hindurch inszenierte sich das Budapester Regime – unter anderen mit der "Frontfrau" Novák als Familienministerin und dann als Staatsoberhaupt – europaweit und global als Hüterin "traditioneller Werte", als Speerspitze gegen einen "dekadenten", der "Gender-Correctness" verfallenen und der "LGBTIQ-Lobby" nachgebenden Westen. Ein von Orbán gepushtes Gesetz zensiert Kinder- und Jugendbücher, die Homosexualität oder Transsexualität thematisieren – mit der falschen Begründung, die Jugendlichen so vor Pädophilie zu schützen.

In Budapest demonstrierten am Freitagabend zehntausende, vor allem junge Menschen gegen die Orbán-Regierung. "Wenn der Pädophilen-Helfer von Bicske davonkam, welchen Schutz genießen dann erst die wirklich Mächtigen?", fragte eine der Rednerinnen, die Stand-up-Künstlerin Edina Pottyondy. "Wie viele solche Fälle kann es noch geben? Darauf gibt es keine Antwort! Nur billige Kommunikation." (Gregor Mayer, 18.2.2024)