(Die ursprüngliche Version dieses Texts wurde aufgrund der Zuschrift eines Mathematikhistorikers am 29. Februar leicht aktualisiert: Zwei Forscher hatten bereits in den 1960er-Jahren eine Schrift publiziert, die auf eine noch ältere Verwendung schließen lässt, siehe unten. Die Redaktion)

Das Dezimaltrennzeichen trennt die Welt in zwei Teile – nicht nur in die vor und nach ihm, sondern auch in die Punkt- und die Komma-Regionen. In Österreich und vielen anderen Ländern wird das Komma als Dezimalzeichen verwendet, in der englischsprachigen Welt (inklusive China) hingegen dominiert der Punkt, der dort die Grenze zwischen dem ganzzahligen Teil und dem gebrochenen Teil einer Zahl angibt. (Eine Ausnahme stellt die Golfregion dar: Als Trennzeichen fungiert hier das Momayyez, das dem Komma ähnelt, aber höher steht.)

PI Dezimalkomma
Als Dezimaltrennzeichen wird entweder ein Beistrich (wie in Österreich), ein Punkt (wie in den USA) oder das Momayyez verwendet. Doch wann wurde das Dezimalkomma erfunden?
Der Standard

Die Vorteile des Dezimaltrennzeichens sind erheblich: Bis zu seiner Erfindung behalf man sich – übrigens schon seit den Babyloniern – mit Bruchzahlen. Aber das ist ziemlich aufwendig und kompliziert. Mit dem Dezimaltrennzeichen hingegen kann man mit nicht ganzzahligen Zahlen genauso leicht rechnen wie mit ganzen Zahlen. Diese enorme Erleichterung für komplexe Berechnungen bildet eine der Grundlagen der modernen Wissenschaft und Technik (von heutigen Excel-Tabellen einmal ganz zu schweigen).

Seine Bedeutung kann entsprechend gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch wie alle anderen mathematischen Errungenschaften, die uns heute als selbstverständlich erscheinen, musste das Dezimaltrennzeichen erst einmal erfunden werden. Wann aber war das? Und wer war der Erfinder?

Bisher kam diese Ehre dem deutschen Mathematiker Christophorus Clavius (1538–1612) zu. In den sogenannten Sinustabellen seines Werks "Astrolabium" 1593 verwendete er als Trennzeichen zwischen dem ganzzahligen Teil und dem Zehntel einen Punkt. Der US-amerikanische Mathematikhistoriker Carl Boyer hielt Clavius deshalb für den ersten Menschen, der den Dezimalpunkt mit einer klaren Vorstellung seiner Bedeutung verwendete. Diese Ansicht muss nun aber wohl korrigiert werden – dank eines Zufallsfunds des kanadischen Mathematikhistorikers Glen Van Brummelen.

Eher zufälliger Fund

Van Brummelen forscht an der Trinity Western University in der Provinz British Columbia eigentlich darüber, wie astronomisches Wissen der muslimischen Gelehrten am Ende des Mittelalters nach Europa gelangte. Er beschäftigte sich deshalb auch mit Giovanni Bianchini (1410–1469), der als Kaufmann arbeitete, ehe er Verwalter des Vermögens der mächtigen Familie d’Este wurde, die damals das Herzogtum Ferrara regierte. Die Vermutung des Mathematikhistorikers: Da sich Bianchini nicht nur um das Vermögen und die Investitionen der Familie kümmerte und deshalb auch viel reiste, sondern auch für die Erstellung von Horoskopen zuständig war, könnte er astronomisches Wissen aus der islamischen Welt importiert haben.

Giovanni Bianchini mit einem Astrolabium
Historisches Porträt, das Giovanni Bianchini mit einem Astrolabium zeigt.
Wikimedia / gemeinfrei

Als Astrologe musste Bianchini natürlich die Astronomie beherrschen und veröffentlichte entsprechend auch mehrere Werke über Themen wie die Bewegungen der Planeten und die Vorhersage von Sonnen- und Mondfinsternissen. Zu dieser Zeit verwendeten die europäischen Astronomen ausschließlich das von den Babyloniern geerbte Sexagesimalsystem mit der Basis 60. Das Sexagesimalsystem wird auch heute noch für die Angabe von Breiten- und Längengraden verwendet, und zwar sowohl für himmlische als auch für irdische. Es unterteilt einen Vollkreis in 360 Grad, jeden Grad in 60 Minuten und jede Minute in 60 Sekunden. Aber es ist schwierig, Operationen wie die Multiplikation mit Sexagesimalzahlen durchzuführen.

Mathematikhistorisches "Heureka!"

Als Van Brummelen eine Abhandlung durchlas, die Bianchini in den 1440er-Jahren schrieb und die den Titel "Tabulae primi mobilis B" trägt, bemerkte der Mathematikhistoriker zum einen, dass Bianchini an einigen Stellen ein dezimales Zahlensystem verwendete. Zum anderen stieß er auch auf den Dezimalpunkt, wie wir ihn heute benutzen. Konkret machte Van Brummelen diese Entdeckung, als er in einem Mathecamp für Mittelschüler unterrichtete. Wie die britische WIssenschaftsjournalistin Jo Marchant in "Nature" berichtet, habe er via Zoom mit einem Kollegen über die "Tabulae" diskutiert und versucht, Bianchinis mittelalterliches Latein zu übersetzen.

Dezimalstelle
Aussschnitt von Bianchinis Dezimaltangententabelle, die Dezimalpunkte in den Interpolationsspalten zeigt.
Van Brummelen, Historia Mathematica 2024 bzw. Biblioteka Jagiellońska

Dabei stießen sie auf eine Passage, in der Bianchini eine Zahl "mit einem Punkt in der Mitte" einführt, nämlich 10,4, und zeigt, wie man sie mit 8 multipliziert. "Mir wurde klar, dass er das genauso benutzt wie wir und er weiß, wie man damit rechnet", sagt Van Brummelen auf Nachfrage von "Nature". Was dann folgte, war Ausdruck authentischer Nerd-Euphorie: "Ich weiß noch, wie ich mit meinem Computer durch die Gänge des Studentenwohnheims rannte und versuchte, jemanden zu finden, der wach war, und rief: 'Seht euch das an, dieser Typ rechnet in den 1440er-Jahren mit Dezimalstellen!'"

Erklärung für die Großtat

Warum aber gelang ausgerechnet Bianchini diese Pionierleistung? Hatte er sie von einem islamischen Gelehrten abgeschaut? Eher nicht, vermutet Van Brummelen. Er geht vielmehr davon aus, dass Bianchinis Ausbildung in Wirtschaftswissenschaften der Schlüssel zu seiner Erfindung gewesen sein könnte. Anders als die Astronomen seiner Zeit war er nicht schon früh in seiner Karriere mit sexagesimalen Zahlen sozialisiert worden. Kaufleuten und Buchhaltern hingegen wurde beigebracht, mit realen Gewichten und Maßen zu rechnen, bei denen die Einheiten auf verschiedene Weise unterteilt werden konnten: Ein Fuß besteht beispielsweise aus zwölf Zoll und ein Yard aus drei Fuß.

Um einfachere Berechnungen zu ermöglichen, erfand Bianchini sein eigenes Dezimalsystem, wie Van Brummelen in der Fachzeitschrift "Historia Mathematica“ schreibt. Er beschrieb ein System zur Messung von Entfernungen, bei dem ein Fuß in zehn gleiche Teile unterteilt wurde, von denen dann wieder jeder in zehn "minuta" und dann in zehn "secunda". Womöglich war sein Ansatz zu revolutionär, um sich sofort durchzusetzen. "Um zu verstehen, was Bianchini tat, musste man ein völlig neues Rechensystem erlernen", erklärt Van Brummelen in "Nature".

Vor- und Nachgeschichten

Bianchinis "Erfindung" und die Verbreitung des Dezimalkommas beruhten ihrerseits aber auch auf der Einführung der hinduistisch-arabischen Zahlen in Europa einige Jahrhunderte zuvor, die vor allem durch die Arbeit von Leonardo Pisano (besser bekannt als Fibonacci) befördert wurde. Oder durch die allmähliche Einführung eines Symbols für die Null, die ursprünglich aus Indien kam.

Zwei Jahrhundert nach Bianchinis sei die Dezimalschreibweise dann aber schon in aller Munde gewesen, meint Van Brummelen. Astronomen wie Christophorus Clavius, die mit immer kleineren Unterteilungen arbeiteten, erfanden in dieser Zeit verschiedene Systeme und suchten nach Wegen, um komplexe Berechnungen zu vereinfachen. Clavius' Arbeit wiederum beeinflusste spätere Experten für Dezimalbrüche wie den flämischen Mathematiker Simon Stevin sowie den schottischen Astronomen und Erfinder der Logarithmen John Napier, der das Dezimaltrennzeichen übernahm.

Die Auswirkungen der Innovation – ein "Fortschritt für die Menschheit", wie der spanische Historiker und Bianchini-Spezialist José Chabás in "Nature" sagt – reichten schnell weit über die Astronomie hinaus. Es wurde möglich, die Natur mit viel größerer Präzision zu erfassen. Auch die Vorstellung einer Zahl, die nach dem Dezimalkomma ewig weitergeht und nie aufhört (wie Pi), ist erst dadurch möglich geworden. Chabás, der an der Entdeckung nicht beteiligt war, plädiert auch dafür, dass die Wissenschaftshistoriografie die Bedeutung Bianchinis neu bewerten sollten.

Aktualisierender Nachsatz

Postskriptum: Van Brummelen und Chabás dürfte allerdings ein etwas über sechzig Jahre alter Text der Byzantinisten und Herbert Hunger (Uni WIen und Österreichische Akademie der Wissenschaften) und Kurt Vogel (Uni München) entgangen sein, in dem die beiden sich mit einer Arithmetik des frühen 15. Jahrhunderts beschäftigten. In der Abhandlung der beiden Gelehrten, die unter dem Titel "Ein byzantinisches Rechenbuch des 15. Jahrhunderts, 100 Aufgaben aus dem Codex Vindobonensis Phil. Gr. 65" 1963 erschien, wird argumentiert, dass der anonyme Autor dieses Werks Dezimalbrüche eingeführt und verwendet hat.

Das lässt der deutsche Mathematikhistoriker und -didaktiker Stefan Deschauer (TU Dresden) den STANDARD wissen. Deschauer hat vor zehn Jahren eine umfangreiche Neuedition eines anderen Teils der 1436 in Konstantinopel (also dem heutigen Istanbul) veröffentlichten "Cod. Vind. phil. gr. 65" vorgelegt (eine Rezension findet sich hier) und argumentiert darin ebenfalls, dass in dem alten Rechenbuch bereits Dezimalbrüche nachweisbar seien – in Form eines senkrechten Strichs. Ob Bianchini dieses Rechenbuch kannte, oder ob er sich seine Innovation ein paar Jahre später selbst ausdachte, wird womöglich Gegenstand weiterer Forschungen sein: Deschauer und Van Brummelen stehen in dieser Frage nicht zuletzt auch wegen dieses Artikels in Kontakt. (tasch, 25. und 29.2.2024)