Der Skandal – um den Satz eines heurigen Jubilars zeit- und landesgemäß abzuwandeln –, der Skandal beginnt dort, wo ein ÖVP-Bundeskanzler vorgibt, ihm ein Ende bereiten zu wollen. Innerhalb von wenigen Tagen wurden fünf Frauen und ein Mädchen von Männern ermordet, eine Bande männlicher Jugendlicher konnte ein Mädchen monatelang missbrauchen. Und was fällt Karl Nehammer spontan zu all dem ein? Das Strafmündigkeitsalter müsste herabgesetzt werden! Man muss dem Kanzler zugutehalten, dass er diesen Aufschrei eines gequälten Sittlichkeitsempfindens losließ, als noch nicht einmal die Polizei genau wusste, wie es zu diesem andauernden Missbrauch kommen konnte, und vermutlich weiß sie es immer noch nicht. Wichtig zur Hebung der landesweiten Moral war es, im Wettlauf um die sittliche Führungsposition mit diesem Aufschrei als Erster ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu dringen.

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP)
Sieht eine "generelle Schieflage" bei der Ahndung von Gewalt- und Vermögensdelikten: Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP).
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Das Glück war ihm dabei insofern hold, als einige der jugendlichen Tatverdächtigen im Missbrauchsfall jünger als 14 Jahre sind. Ohne diese biologische Voraussetzung hätte er sich in seinen Bemühungen als Strafrechtsreformer ohne Auftrag erst gar nicht auf die Idee einer Herabsetzung der Strafmündigkeit kaprizieren können, und er hätte im Wahljahr womöglich auf einen Auftritt verzichten müssen.

Nicht mangels anderer Ideen. In seiner Sorge, Kinder könnten womöglich "nicht ausreichend bestraft werden", lässt sich der Humanist Nehammer auch von noch so vielen Experten auf diesem Gebiet nichts dreinreden, mögen sie im Unterschied zu ihm noch so viel davon verstehen. Sie würden ihm gar nichts dreinreden, wo er von mehr Aufmerksamkeit für die Verantwortung der Eltern und Hilfe bei der Prävention spricht. Nur hat seine Regierung auf diesem Gebiet so gut wie gar nichts getan, obwohl dafür jahrelang Zeit gewesen wäre, und so eher Beihilfe geleistet, dass es zu solchen Ereignissen kommen kann.

Spielmaterial im Wahlkampf

Stattdessen faselt er von einer "generellen Schieflage" bei der Ahndung von Gewalt- und Vermögensdelikten und behauptet, der Missbrauchsfall zeige, dass das Rechtssystem nicht treffsicher genug sei. Was weder die Kriminalstatistik noch die Urteilssprüche hergeben. Die Treffsicherheit des Rechtssystems durch "ausreichende" Bestrafung von Minderjährigen erhöhen zu wollen, mag jene befriedigen, die Einsperren für die Lösung aller Probleme halten, eine Lösung gesellschaftlicher Probleme ist das nicht. Dass die Prävention im Kindergarten und in den Schulen beginnen muss, ist zwar bekannt, aber auch bekannt ist, dass eine zeitgemäße Pädagogik nicht zu den Schwächen der ÖVP gehört.

Kinderschicksale als Spielmaterial im Wahlkampf – das ist unsittlich. Und Nehammers Pech: Er kann sich noch so vordrängen, auf diesem Gebiet wird er gegen die FPÖ keine Punkte holen. Eine Herabsetzung der Strafmündigkeit auf unter 14 Jahre ist in Kickl genetisch verankert, solange es nicht um Identitäre geht. Mit einem diesbezüglichen Antrag im Nationalrat will er Nehammers Ernsthaftigkeit prüfen, und der wird sich auf irgendwelche Maßnahmen herausreden, die zu erarbeiten er irgendwen beauftragt hat.

Das kann nur noch ein Schnellschuss werden, denn seine Regierungszeit läuft aus. Doch es gibt Gerechtigkeit. Er könnte ausreichend bestraft werden. (Günter Traxler, 8.3.2024)