Die Geschichte liefert eindrucksvolle Beispiele dafür, wie wichtig der vielbeschworene deutsch-französische Motor für den Erfolg der Europäischen Union, dieses historischen Experiments, gewesen ist.

Wenn man aber heute die Gründe für den öffentlichen Streit zwischen Berlin und Paris in der Kernfrage der europäischen Sicherheitspolitik – in der Unterstützung für die von Russland überfallene Ukraine – sucht, müssen wir von der Feststellung des großen deutschen Historikers Reinhart Koselleck (1923–2006) ausgehen: "Die Geschichte ist weder ein Gericht noch ein Alibi."

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz
Sind nicht auf einer Linie: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz.
AFP/AXEL HEIMKEN

Persönliche und innenpolitische Faktoren haben auf beiden Seiten den offenkundigen Streit in der Rüstungs- und Sicherheitspolitik geprägt. Zwei Jahre nach der von ihm verkündeten Zeitenwende wird Bundeskanzler Olaf Scholz nicht nur von der Opposition, sondern auch von dem liberalen Wochenblatt Die Zeit wegen seiner Führungs- und Kommunikationsschwäche als "Illusionist" kritisiert, dessen als besonnen gemeinte Politik, wie zum Beispiel mit dem Nein zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern für die Ukraine – mit der Kapazität, Ziele in mehr als 500 Kilometer Entfernung zu zerstören –, in "Chaos und Verstörung" endete. Mit seinem zu langen Zögern und einer inzwischen als falsch entlarvten Rechtfertigung gelang es Scholz, nicht nur die ums Überleben kämpfende Ukraine, sondern auch die Nato-Partner, zu brüskieren.

Unbedachte Worte

Nur 34 Prozent der Deutschen würden heute die drei Parteien der zerstrittenen Ampelkoalitionsregierung und bei einer Direktwahl nur 15 Prozent Scholz zum Kanzler wählen. Bei dem letzten ZDF-"Politbarometer" konnte der unpopuläre Regierungschef nur mit seinem Nein zur Taurus-Lieferung etwas punkten, da 59 Prozent der Deutschen wohl aus Kriegsangst auch dieser Meinung sind. Da ein Drittel der Deutschen eine große militärische Bedrohung durch Russland nicht sieht, spekulieren bereits manche Beobachter, dass sich Scholz zum "Friedenskanzler" und die SPD aus wahltaktischen Gründen zur Antikriegskraft stilisieren möchten. Die kontraproduktive Äußerung Emmanuel Macrons über die Möglichkeit, die Ukraine mit Bodentruppen zu unterstützen, lieferte Scholz den Anlass, durch mehrfaches Hochspielen dieser unbedachten Worte seinen auf Atommacht pochenden unbequemen Partner in Paris zu irritieren.

Man muss freilich betonen, dass Präsident Macron, der jetzt "die Feigheit" der anderen kritisiert und ein "strategisches Aufwachen" fordert, noch im Jahr 2019 (!), also fünf Jahre nach der Besetzung der Krim und des Donbass, mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in seiner Sommerresidenz an der Riviera ohne Abstimmung mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über "einen strategischen Dialog" diskutierte und in einem Economist-Interview der Nato den "Hirntod" bescheinigte. Vor allem die Osteuropäer haben seine Forderung nach "Sicherheitsgarantien für Russland" und seine Warnung vor der "Erniedrigung Russlands" nach dem Überfall auf die Ukraine nicht vergessen. Macron hat übrigens seine Irrtümer in der Russland-Politik nie eingestanden.

Der von dem zögernden Scholz und dem unberechenbaren Macron geführte "deutsch-französische Motor" existiert derzeit also nur in der Rhetorik. (Paul Lendvai, 11.3.2024)