Heute vor achtzig Jahren besetzten die Truppen Hitlerdeutschlands Ungarn, um einen Absprung des Verbündeten zu verhindern und die "Judenfrage" endgültig zu lösen. Es gab keinen militärischen oder zivilen Widerstand. Nirgends in Mittel- und Osteuropa konnten die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden betrachteten 800.000 bis 825.000 Menschen (trotz der Judengesetze) so lange in relativer Sicherheit leben wie in Ungarn. Nirgends wurden die Juden aber so schnell und so brutal in den Tod geführt wie in Ungarn. Knapp sechs Wochen nach dem Einmarsch verschwanden spurlos meine Großeltern und zwei Dutzend Verwandte aus den Dörfern in Siebenbürgen, die laut dem Wiener Schiedsspruch der Achsenmächte seit 1940 nach zwei Jahrzehnten rumänischer Herrschaft (Trianon-Diktat) wieder zu Ungarn gehörten.

Die "Endlösung" lief auf Hochtouren. Unter der Oberaufsicht Adolf Eichmanns und seiner Schergen haben zehntausende ungarische Gendarmen und Beamte stolz gemeldet, dass sie zwischen dem 15. Mai und dem 7. Juli 1944 mit 147 Zügen (je 70 Personen in Viehwaggons) insgesamt 437.402 Juden nach Auschwitz deportieren ließen.

Auschwitz Nationalsozialismus Judentum
Ankunft deportierter ungarischer Jüdinnen und Juden 1944 in Auschwitz-Birkenau.
Foto: imago images/Reinhard Schultz

Bis zum bitteren Ende im Frühjahr 1945 starben in den Gaskammern, in den Lagern und auf den Todesmärschen nach Österreich mehr als 560.000 ungarische Juden. Zu den Opfern gehörten auch zehntausende Soldaten und Zivilisten, katholische Nazi-Gegner und Sozialdemokraten, Adlige und Kommunisten. An der Feststellung des aus Siebenbürgen stammenden Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel (1928–2016) ist jedoch nicht zu rütteln: "Nicht alle Opfer waren Juden – aber alle Juden waren Opfer."

Erschütterndes Zeugnis

Der 19. März 1944 war die Lehre für meine Generation, dass an einem einzigen Tag alles versinken kann. Wenn man bedenkt, dass wir, die Überlebenden, dem unbarmherzigsten, konzentriertesten und schnellsten Vernichtungsprozess des Krieges und wohl der modernen Geschichte entkommen sind, wird es verständlich, dass Jean Amérys Worte für uns gelten: "Jude sein heißt, sich ständig der 'Endlösung' als einer Wirklichkeit von gestern und einer Möglichkeit von morgen bewusst sein."

Er war österreichischer Schriftsteller und zugleich ein in Haft grausam gefolterter Widerstandskämpfer, der 1978 in Salzburg im Alter von 66 Jahren Selbstmord begangen hat. In seinem Buch Jenseits von Schuld und Sühne hat Améry ein erschütterndes Zeugnis über diese Epoche abgelegt.

"Damals wie heute überwiegt die Gleichgültigkeit."

Dass Unvorhergesehenes jederzeit geschehen kann, bewiesen der entsetzliche Überfall der Hamas-Terroristen auf friedliche Zivilisten in Israel und die tragischen Folgen auch für die Palästinenser im Gazastreifen. Aber die weltweiten Demonstrationen für die Hamas und die Palästinenser, immer gegen Israel und Hand in Hand mit unverhülltem Judenhass, auf den Straßen und an den Universitäten, bei kulturellen Veranstaltungen und Filmfestivals, ohne ein Wort der Solidarität mit den israelischen Opfern des grausamen Überfalls vom 7. Oktober, rufen auch nach achtzig Jahren die Erinnerung an die europäische Reaktion auf die Shoah wach. Der Massenmord an fast sechs Millionen Juden hatte das Gewissen der europäischen Völker nicht schockiert. Damals wie heute überwiegt die Gleichgültigkeit. (Paul Lendvai, 19.3.2024)