Einen Monat lang hatte Funkstille geherrscht zwischen dem israelischen Regierungschef und seinem wichtigsten Verbündeten, dem Präsidenten der USA. Doch als Benjamin Netanjahu und Joe Biden am Montag endlich miteinander telefonierten, wurden keine Freundlichkeiten ausgetauscht. Er wolle die Körpersprache nicht interpretieren, sagte Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan anschließend, aber: "Ich kann bezeugen, dass das Gespräch nicht abrupt endete. Ich würde sagen, es war sehr geschäftsmäßig."

Biden in Netanjahu in Tel Aviv.
Biden und Netanjahu in Tel Aviv kurz nach dem Hamas-Massaker.
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Niemand hat den Hörer aufgeknallt? Im diplomatischen Alltag ist dies eine extrem niedrige Schwelle. Tatsächlich fiel auf, wie unterschiedlich Jerusalem und Washington mit dem Gespräch umgingen. Während die israelische Regierung in einer knappen Stellungnahme ein paar Allgemeinplätze von sich gab, trat Sullivan anschließend im Briefing Room des Weißen Hauses vor die Presse und äußerte sich mehr als eine halbe Stunde lang zu dem Telefonat und der geplanten israelischen Militäroffensive in der mit Flüchtlingen überfüllten Stadt Rafah, die er offen "einen Fehler" nannte. Biden habe keine Drohungen ausgesprochen, versicherte Sullivan zwar. Aber er zitierte ungewöhnlicherweise eine Aussage des Präsidenten wörtlich: "Ich möchte, dass Sie, Herr Ministerpräsident, genau verstehen, wo ich stehe. Ich bin dafür, Hamas zu besiegen. (...) Gleichzeitig glaube ich, dass man eine Strategie braucht, um das zu erreichen. Und diese Strategie sollte nicht eine große Militäroperation beinhalten, die abertausende Leben von Zivilisten und Unschuldigen in Rafah aufs Spiel setzt."

Wachsende Spannungen

Die klare Ansage dürfte Netanjahu kaum überrascht haben. Sie illustriert die wachsenden Spannungen zwischen Washington und Jerusalem hinsichtlich des Gazakriegs. Während die israelische Regierung ihre Militäroperation gegen die Terrororganisation Hamas, die bereits rund 30.000 Menschenleben gekostet hat, ungeachtet aller Ermahnungen fortsetzt und Hilfslieferungen blockiert, nehmen in den USA die Verärgerung über Netanjahu und die Kritik am eigenen Präsidenten, der diesen unterstützt, zu. Die Hälfte der Amerikaner ist laut Umfragen überzeugt, dass Israel mit seiner monströsen Vergeltungsaktion im Gazastreifen zu weit gegangen ist. Mehr als zwei Drittel der Demokraten-Wähler verlangen, dass Biden mehr Druck auf Netanjahu ausübt. Dessen Weigerung, einen Plan für ein künftiges Zusammenleben mit den Palästinensern zu entwickeln, stürzt den US-Präsidenten in ein doppeltes Dilemma: Er muss die humanitäre Katastrophe mitverantworten und kann gleichzeitig keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft verkünden.

So verliert Biden, der sich nach dem blutigen Hamas-Massaker vom 7. Oktober demonstrativ an die Seite Israels gestellt hatte, zunehmend die Unterstützung bei jüngeren und arabischstämmigen Wählern. Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse gefährdet diese Entwicklung ernsthaft seine Wiederwahl: Aus Protest gegen Bidens Israel-Politik verweigerten ihm bei den demokratischen Primaries in Michigan 13 Prozent, in Minnesota 19 Prozent und in Hawaii gar 29 Prozent der Wähler ihre Unterstützung und stimmten mit "unentschlossen". Bei Demonstrationen beschimpfen Parteilinke den Präsidenten offen als "Völkermord-Joe" und verlangen eine sofortige Waffenruhe. Acht linke Senatoren fordern in einem Antrag einen unmittelbaren Lieferstopp für amerikanische Angriffswaffen an Israel. Biden und Netanjahu kennen einander seit mehr als 40 Jahren. Anfangs hatte der Amerikaner gehofft, den Israeli in einer Art Umarmungsstrategie von einer maßlosen Reaktion auf den Hamas-Überfall abhalten zu können.

Strategie gescheitert

Diese Strategie ist gescheitert. Immer offensichtlicher wird, dass die beiden Regierungschefs konträre Ziele verfolgen: Der ultrarechte Netanjahu hat ein Interesse an einer Niederlage Bidens und einem Sieg von Donald Trump bei den US-Wahlen im Herbst. Biden hingegen muss die Perspektive einer Zweistaatenlösung "als einzigen Weg zu dauerhaftem Frieden und Sicherheit" im Nahen Osten offenhalten und sieht Netanjahu als Hindernis. Als der demokratische Senatsmehrheitsführer Chuck Schumer in der vorigen Woche offen kritisierte, Netanjahu sei "vom Weg abgekommen", und Neuwahlen in Israel forderte, lobte Biden die "gute Rede". Mit dem Telefonat nun hat Biden zunächst ein paar Tage Zeit gewonnen. Er zitierte für Ende dieser oder Anfang nächster Woche ein israelisches Team mit Vertretern von Militär, Geheimdiensten und Hilfsorganisationen nach Washington, um einen "alternativen Plan" zur Militäroffensive in Rafah zu erörtern. Netanjahu willigte ein.

Gleichzeitig fliegt US-Außenminister Antony Blinken in den nächsten Tagen erneut nach Saudi-Arabien und Ägypten, um über einen Waffenstillstand und eine Freilassung der Geiseln zu verhandeln. Mit Bezug auf den Besuch der israelischen Delegation sagte Sicherheitsberater Sullivan, die Biden-Regierung erwarte, dass Jerusalem seine geplante Militäroperation in Rafah auf Eis lege, "bis wir zusammengesessen und das alles durchgesprochen haben". (Karl Doemens aus Washington, 19.3.2024)