Michel Talagrand
"Das Geheimnis des Erfolgs in der Mathematik ist, jeden Tag bis zur Erschöpfung zu arbeiten, aber nicht mehr." Michel Talagrand hat den – neben der Fields-Medaille – wichtigsten Mathematikpreis gewonnen.
TalagranPeter Bagde/Typos1/Abelpreis 2024

Mathematik hat nicht ganz zu Unrecht den Nimbus des Unverständlichen. Michel Talagrand, der diesjährige Gewinner des Abelpreises – eine Art "Nobelpreis der Mathematik" – hat diese Schwierigkeit in einer seiner frühen Publikationen sogar in Zahlen gegossen. Er meinte damals, dass nur drei Menschen auf der Welt verstünden, wovon in seinem Text die Rede sei. Bei den drei Menschen sei er selbst miteingeschlossen.

Am Mittwoch verlieh ihm die Norwegische Akademie der Wissenschaften den Abelpreis, der als Nobelpreis der Mathematik gilt und mit 7,5 Millionen norwegischen Kronen (etwa 660.000 Euro) dotiert ist. Die Präsidentin der Akademie, Lise Øvreås, lobte den "enormen Einfluss" der Arbeiten des Franzosen in Bereichen wie Wahrscheinlichkeitstheorie, Funktionalanalysis und Statistik.

Münzwürfe zur Illustration

Etwas leichter verständlich ist das folgende Beispiel, das zumindest einen Eindruck davon gibt, in welchem Bereich der 72-jährige Talagrand das Verständnis von Wahrscheinlichkeitsphänomenen revolutionierte und zum "Zähmer des Zufalls" wurde, wie das Fachblatt "Nature" schreibt. Wenn man eine Münze 1.000 Mal wirft, beträgt die Wahrscheinlichkeit 99,7 Prozent, dass sie bei mehr als 450, aber weniger als 550 Würfen Kopf zeigt – unter Elimination aller Wurfverzerrungen, die erst unlängst untersucht wurden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie mehr als 600 Mal Kopf zeigt, liegt bei einem Millionstel von einem Prozent. Talagrand, der in Paris am Nationalen Zentrum für Wissenschaftliche Forschung CNRS arbeitete, hat dieses Phänomen, die sogenannte Messkonzentration, aufgeklärt.

Das Interesse an der Naturwissenschaft wurde bei Talagrand auf recht typische Weise geweckt: Seine Eltern abonnierten in seiner Kindheit die populärwissenschaftliche Zeitschrift "Sciences et Avenir", nachdem 1957 der sowjetische Satellit Sputnik gestartet war, erzählte der Mathematiker in einem Interview im Jahr 2019. Die Begeisterung für Mathematik entwickelte sich durch eine frühe Lebenskrise: Als er 15 Jahre alt war, wurde er mit einer Netzhautablösung im linken Auge ins Krankenhaus eingeliefert. Ein Jahrzehnt zuvor hatte er bereits sein rechtes Auge aufgrund einer anderen, durch eine genetische Störung verursachten Ablösung für immer verloren.

Der Teenager hatte verständlicherweise große Angst davor, zu erblinden. Um ihn zu unterhalten, erzählte ihm sein Vater, ein Mathematiklehrer, stundenlang Zahlenrätsel. Der 15-Jährige stellte sie sich in seinem Kopf vor und entwickelte von da an eine Leidenschaft für mathematische Probleme. Wie weit die geht, legte er in seiner Rede anlässlich der Überreichung des Shaw-Preises im Jahr 2019 offen. Darin erwähnte er einerseits die wichtige Rolle seiner "perfekten Frau", der Mathematikerin Wansoo Rhee.

Private Prozentrechnungen

Andererseits sagte Talagrand: "Das Geheimnis des Erfolgs in der Mathematik ist, jeden Tag bis zur Erschöpfung zu arbeiten, aber nicht mehr. Glauben Sie ihr nicht, wenn sie sagt, dass ich 99 Prozent meines Lebens der Mathematik und ein Prozent ihr gewidmet habe. Ich habe ihr mindestens zwei Prozent gewidmet." Das Paar, das zwei Kinder hat, bereiste nach Angaben der Norwegischen Akademie mehr als 100 Länder, was dann doch eher für die zwei Prozent spricht.

Der Franzose gilt als sehr produktiver Mathematiker. Neben der Messkonzentration hat die Norwegische Akademie weitere zwei Bereiche seiner Arbeit hervorgehoben: Spin-Gläser und die Vorherrschaft stochastischer Prozesse. Spin-Gläser sind magnetische Systeme, in denen die Atome des Materials mit einer eigentümlichen Zufälligkeit angeordnet sind. Der italienische Physiker Giorgio Parisi, der 2021 den Nobelpreis für Physik erhielt, verwendete zur Untersuchung dieser Materialien eine sehr heterodoxe Mathematik, aber Michel Talagrand gelang es, die Schlussfolgerungen seines Kollegen mit seinem leistungsstarken mathematischen Arsenal zu beweisen.

Die Norwegische Akademie der Wissenschaften verwendet das Bild von Wellen unterschiedlicher Größe, die sich an einem Strand brechen, um einen stochastischen Prozess zu veranschaulichen: ein Konzept, das sich auf eine Folge von Zufallsvariablen bezieht. Um die Größe der größten Welle, die auf eine Küste trifft, vorhersagen zu können, muss man wissen, wie man den Maximalwert, den höchsten Wert, berechnet. Talagrand hat innovative mathematische Werkzeuge entwickelt, um diese Maxima zu analysieren.

Warnung vor künstlicher Intelligenz

Neben der Mathematik gilt Talagrands Leidenschaft dem Marathonlauf und dem Bridgespiel. Nach den Fortschritten der künstlichen Intelligenz in der Mathematik befragt, äußerte er sich vor fünf Jahren in einem Interview skeptisch: "Mein erster Eindruck ist, dass es einen großen Unterschied zwischen Strategiespielen wie Go und der mathematischen Forschung gibt, die sich in einem Raum mit unendlichen Dimensionen zu entwickeln scheint", meinte Talagrand damals. Aber wer könne wissen, ob die künstliche Intelligenz eines Tages in der Lage sein werde, echte Mathematik zu erfinden? "Ich fürchte, dass unsere Spezies in Gefahr ist, wenn das passiert." (tasch, 20.3.2024)