Die Sexualwissenschafterin Shere Hite.
Shere Hite, einst weltbekannt, heute in Vergessenheit geraten.
imago images/Becker&Bredel

Shere Hite hat Mitte der 1970er-Jahre eines der meistverkauften Sachbücher aller Zeiten veröffentlicht. Sie hat mit ihrem "Hite-Report. Das sexuelle Erleben der Frau" erstmals ein umfassendes und vielschichtiges Bild des sexuellen Erlebens von Frauen geschaffen. Dafür erlangte Hite Berühmtheit: In den 1980er-Jahren galt sie als feministische Ikone, die allerdings so gar nicht in das damalige Bild passte, wie eine Feministin auszusehen hätte. Knallroter Lippenstift, eine Frisur, die an die frühe Marylin Monroe erinnerte, durchsichtige oder enganliegende Kleidung und erotisch posierend: Hite ließ sich nicht in Klischeebilder pressen. Inzwischen ist die feministische Pionierin weitgehend in Vergessenheit geraten. Selbst in frauenpolitisch interessierten Kreisen kennt kaum noch jemand den Namen Shere Hite. Dabei hat sie mit "ihrem Buch die Welt verändert", sagt die Kulturwissenschafterin Mithu Sanyal.

Eine kürzlich in den USA und Großbritannien erschienene Dokumentation geht unter dem Titel "The Disappearance Of Shere Hite" der Frage nach, warum die Sexualwissenschafterin heute weitgehend unbekannt ist – was tatsächlich eine seltsame Wendung ist und letztlich wohl viel mit ihrem Frausein zu tun hat.

The Disappearance Of Shere Hite - Official UK Trailer
Dogwoof

Shere Hite stellte das sexuelle Leben von Frauen in einer bis dahin beispiellosen Vielfalt und Offenheit dar. Sie zeigte damit auf, wo die sexuelle Revolution der späten 1960er-Jahren vieles zu wünschen übrigließ. So wurde Frauen, zumindest theoretisch, zwar mehr sexuelle Freiheiten eingeräumt. Doch erst Hite stellte die Frage nach der Qualität des Sexlebens von Frauen – ganz im Sinne der damaligen und für die gerade groß gewordene zweite Frauenbewegung essenzielle Direktive: Das Private ist politisch.

Shere Hite wurde 1942 in Missouri geboren, ihre Mutter war damals erst 16 Jahre alt. Shere studierte an der University of Florida Geschichte und begann nach ihrem Abschluss ein Masterstudium im Fach Sozialgeschichte an der Columbia University in New York. Schon damals interessiert sie sich für die weibliche Sexualität – ein Thema, das sie auch in ihrer Promotion behandelt wollte. Die Columbia jedoch lehnte ihr Dissertationsvorhaben ab. Hite schmiss daraufhin ihr Studium hin, das sie teils mit Modeln und Nacktfotos, etwa im "Playboy", finanziert hatte. Später bezeichnete sie dies als "schmerzlich und sehr peinlich".

Hite engagierte sich ab den 1970er-Jahren feministisch, und so stand sie bald selbst vor dem Firmengebäude eines Auftraggebers, für dessen Werbung sie kurz davor posiert hatte. Für die Schreibmaschinenmarke Olivetti war sie als langbeinige blonde Sekretärin zu sehen gewesen, der dazugehörige Slogan lautete: "Diese Schreibmaschine ist so schlau, dass sie es nicht mehr sein muss."

Genau nachgefragt

Obwohl das sexuelle Erleben von Frauen als Dissertationsthema abgelehnt wurde, wollte Hite weiter dazu forschen. Eine wichtige Impulsgeberin für sie war die New Yorker Feministin Anne Koedt und ihr Text "Der Mythos vom vaginalen Orgasmus" (1968). Koedt strich darin die Bedeutung der Klitoris für Frauen hervor und kritisierte Sigmund Freuds Theorie vom vaginalen Orgasmus als reifen und den klitoralen als infantile und unreife Version eines Orgasmus.

Die weibliche Sexualität wurde in Hites feministischem Umfeld intensiv diskutiert. Deshalb wollte die damals Anfang Dreißigjährige das Naheliegendste tun und eine große Menge an Frauen dazu befragen. Im Vorwort des 1976 erschienenen "Hite-Report" schreibt sie, Wissenschafter hätten Frauen viel mehr gesagt, was sie beim Sex zu empfinden hätten, anstatt sie zu fragen, was sie fühlen.

Für ihren Report verschickte Hite 3.000 Fragebögen, die die Frauen anonym und ausführlich in ihren eigenen Worten beantworten konnten. Es waren konkrete Fragen zu Orgasmen, Masturbation, sexuellen Praktiken oder ihren Beziehungen. Zum Beispiel: "Welcher 'Lebensstil' ist Ihrer Meinung nach für Sie der beste? Längere Zeiten der Monogamie? Zwei, drei oder vier regelmäßige Liebhaber? Gelegentlich sexuelle Beziehungen?"

Frauen wurden in diesem Fragebogen in ihrer Autonomie angesprochen. Die Möglichkeiten, die ihnen die Frauenbewegung verschaffte, wurden schon als selbstverständlicher Anspruch formuliert. Das machte Konservative rasend, und ihre Wut richtete sich auf die Botin von Nachrichten, die man nicht gern hören wollte.

Shere Hite, hier in der Doku
Shere Hite, hier in der Doku "The Disappearance Of Shere Hite".
IMAGO/Everett Collection

Die geschilderten Erfahrungen der Frauen räumten etwa mit der Vorstellung auf, penetrativer Sex wäre das Maß aller Dinge. 70 Prozent der Frauen gaben an, dass sie beim Geschlechtsverkehr nicht ausreichend stimuliert würden.

Und aus den Angaben über Masturbation folgerte Hite, dass Frauen ihr sexuelles Vergnügen auch gut für sich allein finden würden. Verhältnismäßig wenig erzählten die Frauen zu Bisexualität oder lesbischen Beziehungen, die nur dreißig Seiten der Taschenbuchausgabe in dem insgesamt 600-seitigen Report füllten. Hite erklärte das mit einer noch wenig verbreiteten offeneren Perspektive. Aufgrund einer starken heterosexuellen Sozialisation würden erotische Signale zwischen Frauen für viele nicht zum sexualkulturellen Skript gehören – damals noch viel weniger als heute, könnte man ergänzen.

Dennoch schockierten zu der Zeit auch die diesbezüglichen Ergebnisse: 16 Prozent der Frauen über 40 gaben an, sexuelle Beziehungen zu anderen Frauen zu haben. Das waren fünf Prozent mehr als der damalige durchschnittliche Anteil an lesbischen Frauen.

Kritik im Playboy

Das Interesse am "Hite-Report" war riesig, und er hielt sich lange auf den Bestsellerlisten. Insgesamt verkaufte er sich über 50 Millionen Mal. Neben sich sachlich gebender Kritik – etwa, dass schließlich nur Frauen geantwortet hätten, die in ihrer Ehe unglücklich seien – gab es unzählige sexistische Kommentare zu dem Buch. Der "Playboy" nannte ihn den "Hate Report", eine Rezensentin des "Spiegel" schrieb, die Schilderungen der Frauen würden sie "anwidern".

Auch Enttäuschung schien sich unter die verheißungsvollen Erwartungen mancher Journalist:innen zu mischen. Die "Süddeutsche Zeitung" schrieb damals etwa: "Spannender als ein Telephonbuch ist dieser Nach-Kinsey gewiß nicht." Der "Hite-Report" lehnte sich mit seinem Namen an den "Kinsey-Report" an, der in den 1950er-Jahren erschienen war. Der "Kinsey-Report" wurde inhaltlich übrigens gleich kritisiert, wie der "Hite-Report": Die Anzahl der interviewten Personen sei zu gering, das Ergebnis nicht repräsentativ. Trotzdem kennt ihn heute jeder, den "Hite-Report" hingegen kaum jemand.

Auf inhaltliche Kritik reagierte Shere Hite unter anderem mit der Feststellung, dass Freud seine Theorien auf eine Studie "dreier (!) Frauen aus dem Wiener Bürgertum aufbaute", wie sie das Magazin "Emma" zitierte. Doch niemand habe das als unwissenschaftlich bezeichnet.

Emotionale Frustration

Die persönlichen Angriffe auf Hite waren massiv, sie erhielt Drohbriefe, und ihr wurde unterstellt, Familien zerstören zu wollen, eine "Männerhasserin" zu sein. In ihrem Folgebuch widmete sie sich dem sexuellen Erleben des Mannes, was ihr wiederum als Anbiederung an Männer ausgelegt wurde. Auch ihr Buch "Frauen und Liebe. Der neue Hite-Report", das 1987 erschien, wurde zum Skandal. Darin kam sie aufgrund tausender Rückmeldungen auf 4.500 verschickte Fragebögen zu dem Schluss, dass Frauen ihre Beziehungen zu Männern zunehmend mit emotionaler Frustration und allmählicher Ernüchterung betrachteten.

1989 verließ Shere Hite die USA, sie zog mit ihrem damaligen Mann nach Köln, gab ihre US-amerikanische Staatsbürgerschaft auf und nahm die deutsche an. Europa erlebte Shere Hite gegenüber ihren Themen als offener. In einer britischen Wochenzeitung schrieb sie 2003, dass sie sich nach einem Jahrzehnt der "anhaltenden Angriffe auf mich selbst und meine Arbeit" sich nicht mehr frei fühle, ihre Forschung in den USA "nach besten Kräften durchzuführen".

Mit Lehraufträgen und Gastprofessuren tat sie das allerdings weltweit, sowohl an der Pariser Sorbonne, an der Nihon-Universität in Japan oder an der University in Cambridge. Dem "Stern" sagte sie 2001, sie hätte sich als Mädchen, das "in einem Kaff in Missouri aufwuchs, nie träumen lassen, jemals ein so spannendes Leben zu führen".

Shere Hite starb im Alter von 77 Jahren in London. (Beate Hausbichler, 22.3.2024)