Mammut Illustration Künstliche Intelligenz
Realistische Videos aus nur einem Prompt verspricht OpenAI mit "Sora". Doch aus welchen Quellen?
Foto: APA / AFP / Drew Angerer

Künstliche Intelligenz (KI) hat den Sprung in das kollektive Bewusstsein geschafft. Das war ein entscheidender Schritt im Jahr 2023, denn als Gesellschaft, Wirtschaft und Staat müssen wir uns auf die Auswirkungen dieser Entwicklung vorbereiten. Ob es dafür zweckdienlich war, Millionen Menschen als "menschliches Feedback" für den US-Chatbot ChatGPT in einen beispiellosen Marketingrausch zu versetzen, wird sich noch zeigen. Denn während wir uns auf allen Ebenen damit abmühen, diese Innovation richtig einzuordnen und zu integrieren, übersehen wir deren geopolitische Bedeutung.

Die Europäische Union hat gerade den AI Act verabschiedet. Dieser zielt darauf ab, einheitliche Regeln für die Entwicklung, Vermarktung und Nutzung von künstlicher Intelligenz in der EU zu schaffen. Ziel dabei ist ein kohärenter Regulierungsrahmen für solche Systeme, die Klassifizierung derselben anhand der von ihnen ausgehenden, potenziellen Risiken sowie die Förderung von Grundrechten und Innovation.

Forsches Sammeln

Davor stand in der EU lange der Daten- und Urheberrechtsschutz im Fokus. Vor noch nicht allzu langer Zeit debattierten Abgeordnete über die Nutzungsrechte an Presseartikeln und deren Verwertung in sozialen Netzwerken. Man stritt darüber, welche genaue Wortanzahl noch als "Zitat" gelten könne, ohne Lizenzkosten zu verursachen. Heute, noch bevor diese Regulierungen in allen EU-Staaten vollständig in Kraft sind, geht es um das Training von KI mit ebendiesen Inhalten; und nicht bloß um Zitate auf Facebook und Google. Auf die heutige Situation hat uns das nur mangelhaft vorbereitet.

Der Aufschrei der Dateneigentümer, deren Inhalte in die KI-Trainings einflossen, dürfte noch ordentlich an Fahrt aufnehmen. Die Technische Direktorin von OpenAI, Mira Murati, wich jüngst im "Wall Street Journal" selbst einfachsten Fragen nach Quellen konsequent aus. Lieber sich mit scheinbarem Unwissen blamieren, statt sich in Anbetracht künftiger Klagen um Kopf und Kragen zu reden, dürfte die Devise sein.

OpenAI's Sora Made Me Crazy AI Videos—Then the CTO Answered (Most of) My Questions | WSJ
OpenAI’s new text-to-video AI model Sora can create some very realistic scenes. How does this generative AI tech work? Why does it mess up sometimes? When will it be released to the public? What data was it trained on? WSJ’s Joanna Stern sat down with OpenAI
The Wall Street Journal

Fair Use?

Beobachtern der Entwicklung wäre neu, dass die unzähligen Content-Ersteller vorab um Erlaubnis gefragt wurden, ob ihre Inhalte für KI-Trainings benutzt werden könnten. Das hängt zum einen mit den Betreibern der Sprachmodelle zusammen und wie forsch sie beim Sammeln ihrer Trainingsdaten vorgingen. Zum anderen aber beurteilt man in den USA solche Fragen traditionell anders als in Europa, denn dort gilt das "Fair Use"-Prinzip, also dass Material in gewissen Fällen auch ohne Rücksprache mit den Urheberrechtsinhabenden verwendet werden darf. Diese Praxis begünstigte historisch Innovationen mit Inhalten und ein "mutiges Vorpreschen" von jungen Unternehmen.

Dass fast alle digitalen Medieninnovationen der vergangenen Jahre – etwa führende News-Aggregatoren wie Google News, Feedly oder Flipboard – von US-Entwicklern kamen, hatte auch mit diesem Prinzip zu tun. Ob "Fair Use" von KI-Betreibern allerdings auch eingehalten wird, können nur Gerichte klären. Zweifel sind angebracht – die Chancen der Verlage vor Gericht sicher größer als noch vor einigen Jahren.

Finanzstarker "First Mover"

Die Frage, wie die USA und Europa das Trainieren mit Daten handhaben und regulieren, mag für viele Menschen ein trockenes Thema sein, aber es ist ein entscheidendes. Die nun stattfindenden Auseinandersetzungen, vor und außerhalb von Gerichten, könnten europäischen KI-Entwicklern zum Nachteil gereichen, wenn diese nicht die Aufmerksamkeit und sachkundige Maßnahmen der Politik mit sich bringen. Denn in den USA sehen wir den "First Mover", der bereits einen maximal großen Trainingskorpus aus dem Internet aufgebaut hat, mit dem Anspruch, Weltmarktführer zu werden. Dazu konnte er bereits viele Milliarden US-Dollar an Funding lukrieren, primär um exorbitante Datencenterkosten zu stemmen, aber Rechtsstreitigkeiten dürften längst als "part of the deal" eingepreist sein.

Und hier haben dramatisch schwächer finanzierte KI-Entwickler in Europa, deren Produkte noch keine Marktreife erreichten, das Nachsehen. Es ist deshalb von historischer Bedeutung, dass europäische Forschung und Entwicklung durch geeignete Maßnahmen wettbewerbsfähig bleibt – oder wird, je nachdem ob man die Grundlagenforschung, die angewandte oder deren "Go to Market"-Status im Auge hat. In genau dieser Reihenfolge nämlich nimmt unsere Stärke (derzeit noch) grandios ab.

Wichtiges Exportgut

Die Stärke der europäischen KI-Industrie ist nicht nur aus rein ökonomischen Gründen bedeutsam. Einen starken KI-Wettbewerb auf Augenhöhe unterschiedlichster Anbieter aus möglichst vielen demokratischen Staaten braucht es auch aus geopolitischen Gründen. Denn die KI ist Trägerin unserer Werte, unserer rechtlichen sowie ethischen Standards. Sie "weiß" alles über uns und entscheidet immer mehr für uns, basierend darauf, wie wir ihr das "Entscheiden" beigebracht haben. KI ist der wichtigste Exportschlager, den eine Nation hervorbringen kann, auch geostrategisch.

Die Macht von generativer KI leitet sich auch aus dem Vertrauen ab, das wir ihr als Nutzerinnen und Nutzer geben. Ihre Kompetenz, nahezu fehlerfrei zu formulieren, scheint dafür maßgeblich zu sein. Diese KI informiert uns deshalb zu immer mehr Themen und trifft zunehmend Entscheidungen für uns oder schlägt diese vor. Sie tut das für Millionen von Menschen und immer mehr Unternehmen und bildet zudem die Basis für das künftige KI-Ökosystem. Tausende Anwendungen werden KI künftig als eine Art Maschinenraum nutzen. Dieser allumfassende Maschinenraum unserer künftigen Produktivität und Entscheidungsfindung sollte breit, diversifiziert und – auch – europäisch sein. (Mic Hirschbrich, 26.3.2024)