Die Hälfte der Menschheit wählt 2024 neue Regierungen, neue Präsidentinnen und Präsidenten, gleichzeitig zeigen Umfragen oder auch Studien wie jene der Bertelsmann-Stiftung und des Stockholmer Instituts für Global Democracy Studies, dass die parlamentarische Demokratie im Rückgang begriffen ist und erstmals seit 2004 Autokratien unterschiedlicher Ausprägung demokratische Systeme überholt haben – trotz der Wahlergebnisse und Veränderungen in Polen und Brasilien.

Viktor Orbáns Ungarn wird inzwischen von Donald Trump in den USA als Role Model gehypt, um vielleicht nach dem Wahlsieg doch die Gewaltenteilung – und vor allem auch die unabhängige Justiz – auszuhebeln, die neutrale gesetzestreue Bürokratie zu "säubern" und mit von künstlicher Intelligenz getriebenen sozialen Medien das ungarische System einer "illiberalen Demokratie" mit Wahlen auch in den USA umzusetzen.

Orbán (links), Trump (rechts)
Vorbild Ungarn? Premier Viktor Orbán beim Präsidentschaftskandidaten der Republikaner Donald Trump.
Foto: APA / AFP / Zoltan Fischer

Unsere Umfragen, die wir im Rahmen des Wiener Instituts für Kultur- und Zeitgeschichte gemeinsam mit dem Fritz-Bauer-Institut der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Wien vor der Covid-Pandemie 2019 und im Dezember 2022 unter der Federführung der Mitbegründerin des Wiener Instituts für Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung Petra Ziegler durchgeführt haben, zeigen sogar für Europa deutliche Warnsignale trotz einer nach wie vor hohen Akzeptanz des demokratischen Modells: Auf die Frage nach einem "starken Führer", der ohne Wahlen und Parlament regiert, stimmten in Frankreich 41 Prozent der befragten Personen zu, in Italien 46 Prozent.

"Nervöses Zeitalter"

Ganz offensichtlich sind die Verlustängste in dem von der digitalen Revolution getriebenen "nervösen Zeitalter" so stark, dass sie leicht mit Hassbotschaften gegen "Fremde" und andere Gruppen aufgeladen werden können. Viele Menschen sehen in ihrer sozialen Hoffnungslosigkeit nur mehr in einem autoritären Regime einen Ausweg.

Der liberale Denker und Europapolitiker Ralf Dahrendorf warnte bereits 1997 als Folge der sozialen Polarisierungen und des Endes des sozialen Wiederaufbaupaktes nach 1945 vor den negativen Folgen für die parlamentarische Demokratie. Er sagte als Folge von Neoliberalismus und Turboglobalisierung ein autoritäres Zeitalter vorher, in dem die Demokratie nur auf dem Papier bestehen bleiben würde.

Sozialer Abstieg

Die Vertrauenswürdigkeit von Politikern sank bei unseren Befragungen im Schnitt auf neun bis elf Prozent, nur in Deutschland (19 Prozent) und dem Vereinigten Königreich (15 Prozent) ist die Zustimmung höher – in Frankreich und Ungarn gelten sie als besonders unzuverlässig (71 Prozent).

Unsere Umfragen zeigen eindeutig, dass Menschen, die sozialen Abstieg fürchten, tendenziell stärker autoritären Botschaften zugeneigt sind als jene, die sich sozial und wirtschaftlich sicherer fühlen. Und je umfassender die Ausbildung ist, desto leichter ist es, mit den rasanten Veränderungen der Gegenwart fertigzuwerden und nicht in Apathie und die damit verbundene Suche nach einem rechten starken Führer zu verfallen.

"Benachteiligungen in der Infrastruktur in ländlichen und regionalen Gebieten können zu einem verstärkten Trend hin zu autoritären Botschaften führen."

Das heißt für die politische Agenda, nicht nur über soziale Gerechtigkeit zu reden, sondern durch umfassende soziale Maßnahmen und Gesetze die Kluft zwischen den Einkommensschichten deutlich zu verringern. Erst dann kann, wie es Dahrendorf fordert, der autoritäre Trend gestoppt werden.

Studien zu Frankreich und Beobachtungen in Österreich, Polen und Ungarn zeigen, dass Benachteiligungen in der Infrastruktur in ländlichen und regionalen Gebieten zu einem verstärkten Trend hin zu autoritären Botschaften führen können. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer Infrastrukturpolitik, die sich nicht ausschließlich auf die Entwicklung von Megastädten konzentriert, sondern auf eine gleichmäßigere Raumplanung abzielt, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg umgesetzt wurde.

"Die Regierenden in Österreich zeigen, wie es möglich ist, alle internationalen Expertenstudien zu ignorieren und mit einem Konzept aus dem 19. Jahrhundert weiterzuwurschteln."

Dasselbe gilt für den Bildungsbereich: Gerade die Regierenden in Österreich zeigen, wie es möglich ist, alle internationalen Expertenstudien zu ignorieren und mit einem Konzept aus dem 19. Jahrhundert weiterzuwurschteln. Statt möglichst viele Ressourcen und geschultes Personal in den Primärbildungsbereich umzuleiten, bleiben die staatlichen Angebote mehr als mangelhaft – ein Blick in den neuesten Film von Ruth Beckermann "Favoriten" genügt.

Stattdessen wird über mehr Polizei zur Verhinderung von Jugendkriminalität diskutiert, und der Bildungsminister schweigt. Keine Partei forderte bisher eine umfassende und konkret umsetzbare Bildungsrevolution.

Alle sind gefordert

Auch lässt sich ein internationaler Trend in Europa und vereinzelt in den USA beobachten, wonach junge Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren tendenziell stärker zu autoritären Einstellungen tendieren als Frauen derselben Altersgruppe. Allerdings sollten wir dieses Thema nicht allein den Schulen überlassen, wir alle sind hier gefordert.

Und es gibt durchaus Möglichkeiten, wie internationale Studien in den USA und in China (!) zeigen: In Unternehmen können bereits einfache Maßnahmen ergriffen werden, um autoritäre Einstellungen messbar und nachhaltig zu reduzieren: Kurze 20 Minuten gut moderierte Diskussionen in kleinen Gruppen von fünf bis zehn Personen, einmal pro Woche am Montagmorgen, reichen aus: Nach nur sechs Wochen lassen sich nicht nur geringere autoritäre Einstellungen feststellen, sondern gleichzeitig wird die Produktivität der Arbeitsergebnisse gesteigert.

Nur neue und innovative Denkansätze und konkrete politische Maßnahmen helfen, den autoritären Trend zumindest in Europa umzukehren und die parlamentarische Demokratie zu fördern. Mit Sonntagsreden und PR-Kampagnen kommen wir sicher nicht weiter! (Oliver Rathkolb, 31.3.2024)