Palästinensische Verletzte Ende vergangenen Jahres auf dem französischen Schiff Dixmude im ägyptischen Hafen Al-Arish. Auch Fatima Alzahraa El Shebiny traf bei ihrem mehrwöchigen Aufenthalt in Ägypten vor allem auf Amputationsopfer.
AFP/KHALED DESOUKI

Der Alltag von Fatima Alzahraa El Shebiny sieht normalerweise ganz anders aus. Als Biochemikerin in einem pathologischen Labor beschäftigt sie sich mit der Untersuchung von Abstrichen oder Harnproben, färbt die Zellen chemisch ein, um sie sichtbar zu machen. Im Februar tauschte sie diesen sehr sterilen Alltag gegen drei Wochen in Ägypten, um Verwundeten aus dem Gazastreifen zu helfen. "Irgendwann habe ich mir gedacht, wir reden viel, aber irgendwie muss auch mehr gehen", erzählt El Shebiny nach ihrer Rückkehr im Gespräch mit dem STANDARD.

Die Lage sei "einfach immer schlimmer geworden", sagt sie über ihre Motivation vor der Reise – und meint damit jene der palästinensischen Bevölkerung in Gaza. Seit dem blutigen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober, bei dem 1.140 Israelis getötet und rund 240 verschleppt wurden, wird der Gazastreifen von israelischen Streitkräften angegriffen. Hilfsorganisationen beschreiben die Zustände seit Monaten als katastrophal, der Bevölkerung droht eine Hungersnot.

Verlorene Gliedmaßen

Von den von der Hamas kontrollierten Behörden im Gazastreifen wurden mehr als 33.500 Tote und über 76.000 Verletzte gemeldet. Nur zehn von 36 Spitälern im schmalen Küstenstreifen sind noch teilweise funktionsfähig, jedes einzelne davon ist hoffnungslos überfüllt. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO müssten rund 9.000 Menschen dringend ins Ausland evakuiert werden, um lebensrettende medizinische Leistungen zu erhalten. Seit Kriegsbeginn konnten nur 3.400 Patienten über Rafah aus dem Gazastreifen gelangen, darunter 2.198 Verwundete und 1.215 Kranke. Viele davon kamen nach Ägypten.

El Shebiny hat selbst Familie in Ägypten und konnte über einen Kontakt bei der Rothalbmondgesellschaft der Vereinigten Arabischen Emirate in fünf ägyptischen Spitälern Verletzte aus dem Gazastreifen besuchen. Sie traf bei ihrem Aufenthalt vor allem auf Amputationsopfer. "Viele Leute, die beide Beine und Arme verloren haben", erzählt El Shebiny. "Das sind auch die Fälle, die sehr hoffen, dass sie irgendwie ins Ausland können." In Ägypten sei es nicht so einfach, die benötigten Prothesen zu bekommen. In Österreich könnte das hingegen leichter sein.

Behandlung in Wiener Spitälern?

Ende November hatte Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) seine Bereitschaft angekündigt, etwa Babys aus Gaza in Wiener Spitälern behandeln zu lassen. Mit dem Wiener Gesundheitsverbund habe man zuvor schon geklärt, dass die entsprechenden Kapazitäten vorhanden seien, hieß es kurz darauf auf STANDARD-Nachfrage aus dem Bürgermeisterbüro. Allerdings: Abhängig ist man dabei vom Bund. Denn ein Aufnehmen von Menschen aus Gaza müsste jedenfalls von der Bundesregierung koordiniert werden.

Und die bräuchte dafür ein Hilfsansuchen aus Ägypten, wie im Außenministerium erklärt wurde. Ein solches gebe es bisher aber nicht, hieß es Ende vergangenen Jahres. Und heute? Hat sich an der Situation irgendetwas geändert? Nein, sagt ein Sprecher des Wiener Bürgermeisters dem STANDARD. "Und ohne Bundesregierung geht gar nichts." Sollte diese eine entsprechende Vereinbarung treffen, würden Wiens Krankenhäuser nach wie vor für Behandlungen bereitstehen.

Ständige Ungewissheit

Mit Amira, einer 13-jährigen Palästinenserin aus dem Gazastreifen, hat Biochemikerin El Shebiny bis heute Kontakt. Sie sei wegen einer Verletzung am Bein nach Ägypten gekommen, es habe sich leicht verkürzt, und sie könne nicht mehr gut gehen. "Das ist ein ganz besonderes Mädchen, sehr aufgeweckt, hat den Willen, irgendwie weiterzukommen", erzählt El Shebiny. Sie hofft, dass das Mädchen vielleicht in die USA und dort eine Ausbildung bekommen kann. "Ihr Wunsch ist es, dass sie wie ihre eigene Mama, die jetzt verstorben ist, Ingenieurin wird."

El Shebiny lernte auch die 72-jährige Fatmah kennen, Begleitperson ihrer krebskranken Enkelin. Ihr Ehemann und ihre beiden Töchter seien im Krieg getötet worden, sie kümmere sich nun um die drei Enkelkinder, das jüngste gerade einmal drei Jahre alt. "Sie lebt in ständiger Ungewissheit, was die Sicherheit ihrer restlichen Familie angeht", sagt El Shebiny.

Sorge um Angehörige

Das sei etwas, was El Shebiny in Geschichten vieler Betroffener beobachtet habe: Die stetige Sorge um ihre Familie im Gazastreifen. "Wir wissen nicht, wann wir nach Hause kommen und wie es unseren Angehörigen in Gaza geht", teilte ihr etwa die 25-jährige Amna mit. "Jeden Tag verstirbt ein Bekannter oder ein Familienmitglied." Oft habe El Shebiny den evakuierten Palästinenserinnen und Palästinensern "erst einmal Beileid für ihre getöteten Angehörigen aussprechen müssen, bevor ich ihnen gute Besserung wünschen konnte". Das enorm hohe Maß an Angst und Stress erschwere auch die medizinische Behandlung.

Medizinisches Personal Anfang November am Grenzübergang Rafah. Von dort aus werden schwerverletzte Palästinenserinnen und Palästinenser zur Behandlung nach Ägypten gebracht.
REUTERS/IBRAHEEM ABU MUSTAFA

Viele empfinden die Lage in Ägypten als schwierig. "Sie sagen immer, wir wissen, dass die ägyptischen Ärzte und die Krankenpfleger ihr Bestes geben, aber das System kommt halt irgendwann an seine Grenzen, nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für die eigenen Bürger. Und sie wissen, dass es in anderen Ländern wohl anders wäre", sagt El Shebiny.

Allein in Ägypten

Ein elfjähriger Bub sei El Shebiny besonders im Gedächtnis geblieben. "Er ist ganz ohne Begleitperson gekommen, was normalerweise nicht der Fall ist", sagt die 25-Jährige. Doch seine Kopfverletzung sei so schlimm gewesen, dass er aus dem Gazastreifen nach Ägypten evakuiert wurde. "Bei dem Bombenangriff, bei dem er verletzt wurde, sind seine Eltern gestorben", erzählt El Shebiny. "Er war sehr still und in sich gekehrt, das ging mir schon sehr nahe. Aber mir wurde gesagt, dass es am Anfang noch viel, viel schlimmer war." Da habe er immer wieder von seiner Mutter gesprochen, gedacht, seine Eltern seien mit ihm im Spital. Erst später habe er realisiert, dass er in Ägypten ganz allein sei.

Einen Wunsch, den die Patientinnen und Patienten gegenüber El Shebiny immer wieder geäußert hätten, sei ein Leben in Würde. "Sie bitten um ihre grundlegendsten Menschenrechte: Sicherheit, Schutz und das Recht auf Selbstbestimmung." Die Betroffenen können nicht mehr und wissen nicht mehr weiter. "Sie sagen, es interessiert sich keiner für uns", sagt El Shebiny. "Sie fühlen sich einfach vergessen." El Shebiny wünscht sich, dass Österreich mit seinen Kapazitäten möglicherweise einen kleinen Beitrag leistet. "Für einige Kinder ist das ja schon ein große Hoffnung, wenn man sie finanziell unterstützen könnte – oder eben herbringt." (Noura Maan, Martin Tschiderer, 11.4.2024)