Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sprach am Nationalfeiertag, dem 15. März, eine erschreckende Drohung aus: "Wenn wir die Freiheit und Unabhängigkeit Ungarns bewahren wollen, müssen wir Brüssel besetzen und die Änderung der Europäischen Union durchführen."

Ein ungarischer Nawalny? Péter Magyar legt sich mit Viktor Orbán an.
REUTERS/Bernadett Szabo

Angesichts der politischen und moralischen Krise, die die ungarische Öffentlichkeit seit Wochen beschäftigt, fällt dem Beobachter der lateinische Spruch von Juvenal ein: "Es ist schwer, keine Satire zu schreiben." Statt des "Marsches nach Brüssel" war der seit 14 Jahren regierende Orbán nämlich mit einer beispiellosen Herausforderung konfrontiert. Während seiner Festrede vor Fidesz-Parteigängern fand eine viel größere spontane Massenversammlung auf dem Andrássy-Prachtboulevard statt. Dort hielt Péter Magyar, ein vorher unbekannter Mann, vor zehntausenden begeisterten Zuhörern eine flammende Rede gegen die "Mafiaregierung" Orbáns.

Enormes Echo

Der beredsame und telegene Ex-Mann Judit Vargas, der früheren Justizministerin und Spitzenkandidatin des Fidesz bei der EU-Wahl im Juni, hatte in den letzten Wochen den politischen Sprengstoff hinter dem Begnadigungsskandal um einen Pädophiliefall und den Bestechungsvorwürfen gegen einen früheren Vizejustizminister zur Explosion gebracht. In sozialen Medien und bei Auftritten wirft Magyar, der auf seine lukrativen Positionen in der regierungsnahen Wirtschaft verzichtet hat, der Regierung Korruption und Machtmissbrauch vor.

Magyars Offensive in sozialen Netzwerken – sein erstes Interview auf dem Youtube-Kanal "Partizán" wurde inzwischen 2,4 Millionen Mal angeklickt – und seine Veröffentlichung eines Audiomitschnitts eines Gespräches mit seiner Frau, aufgenommen vor ihrer Scheidung, über die Behinderung der Justiz, haben enormes Echo ausgelöst. Eine fast zwei Stunden lange emotionale Gegenanklage Vargas in einem TV-Interview, dass sie in sechzehn Jahren der Ehe mit drei Kindern häuslicher Gewalt ausgesetzt gewesen sei, wird in den Regimemedien hochgespielt, aber verpufft politisch wirkungslos.

Hohe Einsätze

Mit der inzwischen aus den Fugen geratenen Kampagne der Regierungsmedien gegen Magyar, den "terroristischen Gewalttäter in der Ehe", und den "rachedürstigen Erpresser" vollzieht sich ein politisch riskanter Striptease des ganzen Herrschaftssystems im Rampenlicht der Öffentlichkeit. In sechs Wochen hat Orbán mit dem Abgang der Staatspräsidentin Katalin Novák und Vargas die einzigen Frauen in führenden Positionen verloren. Sein enger Berater Bischof Zoltán Balog musste wegen seiner Verstrickung im Begnadigungsskandal auf das Amt des pastoralen Präsidenten der Synode der reformierten Kirche verzichten. Demnächst soll laut Gerüchten der Leiter der Staatskanzlei Orbáns, Minister Gergely Gulyás, wegen seiner Freundschaft mit Magyar und Varga auch über die Klinge springen.

Magyar, der aus dem Inneren des Systems kommt, spielt mit hohen Einsätzen. Am Samstag hofft er, vor hunderttausend Menschen in Budapest die Gründung einer neuen Oppositionspartei bekanntzugeben. Wird er ein ungarischer Nawalny? Wem wird er mehr schaden, dem Orbán-Regime oder eher der impotenten Opposition? (Paul Lendvai, 2.4.2024)