Erde Menschen Zeitalter Anthropozän
Der Erde droht der Kollaps. Gibt es Auswege in eine nachhaltige Zukunft?
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Das "Economist"-Magazin titelte im Jahr 2011 "Welcome to the Anthropocene". Elf Jahre zuvor hatte der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen das Anthropozän mit dem Menschen (griech. "anthropos") als geologischer Kraft zum neuen Erdzeitalter erhoben. Um diesen Vorschlag zu prüfen, haben die geologischen Fachgremien eine Arbeitsgruppe einberufen. Nach jahrelanger Arbeit setzte sie das Ende des Holozäns und den Beginn des Anthropozäns Mitte des 20. Jahrhunderts an.

Für den geologisch notwendigen Nachweis fiel die Wahl auf den Crawford-See in Kanada als Referenzort. Im Seeschlamm sind Spuren von Fossilbrennstoffen, Kunstdüngereinsatz und Atombombentests nachweisbar. Alles schien für die Anthropozän-These zu sprechen. Doch kürzlich sorgte das für den Fall zuständige Geologengremium mit einem Datenleak für Schlagzeilen: Zwölf von 18 Mitgliedern stimmten gegen das Anthropozän als geologische Epoche. Fachliche Kritik am Inhalt und Vorgehen parierte der Generalsekretär knapp: "Case closed."

See in Kanada zum Referenzpunkt für Zeitalter des Menschen gekürt
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War es das mit dem Anthropozän? Mitnichten. Der Begriff ist längst aus der Geologenblase entwichen und hat sich in anderen Wissenschaften und der öffentlichen Umweltdebatte verfestigt. Die Erdsystemforschung belegt, dass menschliche Eingriffe in unseren Planeten ab etwa 1950 eine "Große Beschleunigung" erfuhren: Energieverbrauch, Kunstdüngereinsatz, Treibhausgasausstoß, Temperaturanstieg, Ozeanversauerung, Artensterben, Entwaldung und so fort. Abgesehen von hyperkritischen Geologengremien und faktenresistenten Verschwörungsgläubigen teilt alle Welt die Zeitdiagnose: Wir leben im Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen als einer planetarischen Prägekraft.

"Basierend auf der Ausbeutung von billiger Arbeit und Natur, vor allem im Globalen Süden, häufte sich der Wohlstand über ungleichen ökonomischen und ökologischen Tausch in den Händen weniger Privilegierter im Globalen Norden."

Doch wer ist "der Mensch", der unseren Planeten zum Kippen zu bringen droht? Seine Hauptsprache ist Englisch, zudem spricht er Deutsch und Französisch, in letzter Zeit auch etwas Chinesisch. Die Verantwortung für die planetarische Krise ist ungleich verteilt, wie die historische Treibhausgasbilanz zeigt: Der weltweite Kohlendioxidausstoß von 1850 bis 2015 geht überwiegend auf das Konto der USA und Europas (27 beziehungsweise 24 Prozent, größtenteils vor 2000), gefolgt von China (elf Prozent, überwiegend nach 2000). Nicht der neue Staatskapitalismus im Fernen Osten, sondern der alte Unternehmerkapitalismus des Westens entpuppt sich als die größte CO2-Schleuder. Der Globale Süden trug nur minimal zur Erderhitzung bei, verspürt aber maximal deren Folgen.

Immense Umweltschäden

Der Begriff des Anthropozäns verdeckt mehr, als er enthüllt. Wir benötigen einen Alternativbegriff, der die ungleichen Verantwortlichkeiten nicht nur benennt, sondern auch historische Erklärungen anbietet. Der Umweltsoziologe Jason Moore bringt dafür das Kapitalozän ins Spiel. Ihm zufolge geht die planetarische Krise auf das Konto des Industriekapitalismus, der ab 1800 von Großbritannien ausgehend seinen fossil-energetisch befeuerten Wachstumstrieb im Weltmaßstab entfesselte. Während sich in den letzten 300 Jahren die Weltbevölkerung verzehnfachte, wuchs das globale Kapital auf das 134-Fache. Basierend auf der Ausbeutung von billiger Arbeit und Natur, vor allem im Globalen Süden, häufte sich der Wohlstand über ungleichen ökonomischen und ökologischen Tausch in den Händen weniger Privilegierter im Globalen Norden.

Es war also der Kapitalismus – aber spielte sein Gegenmodell, die Zwangsindustrialisierung im Realsozialismus, nicht eine ebenso destruktive Rolle? Der Systemkonflikt zwischen West und Ost nach 1945 verursachte auf beiden Seiten immense Umweltschäden. Auch die spät industrialisierte Sowjetunion befeuerte die Klimaerwärmung (acht Prozent der CO2-Menge 1850 bis 2015). Doch ein Unterschied ist wesentlich: Das sozialistische Lager plünderte und schädigte größtenteils heimische Ökosysteme. Das kapitalistische Lager hingegen griff zusätzlich nach den billigen Ressourcen der "Dritten Welt". So etwa lag der Fußabdruck der Sowjetunion 1973 bei 100, der USA jedoch bei 173 und Westdeutschlands sogar bei 292 Prozent der heimischen Biokapazität. Nur durch ungleichen Tausch mit der Außenwelt und Umverteilung im Inneren behielt der Westen im Wohlstandswettlauf mit dem Osten die Nase vorn. Die Entschärfung der sozialen Frage im Konsumkapitalismus ging Hand in Hand mit der weltweiten Zuspitzung der ökologischen Frage, der "Großen Beschleunigung".

Planetarische Krise

Die Kapitalozän-Perspektive erhellt nicht nur das Hineinschlittern in die planetarische Krise in der Vergangenheit, sondern auch Auswege in eine nachhaltige Zukunft: Anpassung oder Überwindung des Kapitalismus? Befürworterinnen und Befürworter der Anpassungsstrategie erwarten die Eindämmung des kapitalistischen Zerstörungsdrangs durch "grünes Wachstum". Anhängerinnen und Anhänger der Überwindungsstrategie plädieren für den Übergang in ein postkapitalistisches System ohne Wachstumszwang. Es wird wohl beides brauchen: kurzfristige Anpassungsschritte mit dem längerfristigen Ziel einer sozial und ökologisch eingebetteten Wirtschafts- und Lebensweise. Dabei ist es nicht egal, welche Begriffe wir verwenden. Denn Sprache prägt Bewusstsein und damit auch Wirklichkeit. In diesem Sinn: Willkommen im Kapitalozän! (Ernst Langthaler, 4.4.2024)