Le Corbusier plante die indische Stadt Chandigarh um 1950 auf dem Reißbrett.
Le Corbusier plante die indische Stadt Chandigarh um 1950 auf dem Reißbrett.
Polyfilm

"Die Materialien der Stadtplanung", schrieb Le Corbusier einst, "sind Himmel, Raum, Bäume, Stahl und Zement. In dieser Reihenfolge und in dieser Hierarchie." Seine Utopie, die er selbst stets als die "Realität von morgen" bezeichnete, sollte sich schon bald bewahrheiten: Nachdem Britisch-Indien nach dem Ende der Kolonialherrschaft 1947 in die beiden Länder Indien und Pakistan aufgeteilt worden war, befand sich Lahore, die einstige Hauptstadt des indischen Bundesstaats Punjab, plötzlich auf pakistanischem Boden. Eine neue Hauptstadt musste her: Chandigarh.

Fußgänger im Mittelpunkt

Zwischen 1950 und 1953 entstanden, zählt Chandigarh zu den wenigen am Reißbrett geplanten Großstädten des 20. Jahrhunderts. Nach Plänen von Albert Mayer (USA) und dem schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier entstand eine grüne, luftige, lebensgenüssliche Gartenstadt mit einer bestechend logischen Superblock-Struktur, einem Wege- und Straßensystem in sieben Geschwindigkeitshierarchien, wobei der Fußgänger von Anfang an im stadtplanerischen Mittelpunkt stand, mit penibel durchnummerierten Bäumen, von denen per Edikt kein einziger jemals wieder gefällt werden darf, und sogar einem künstlich ausgebuddelten Sukhna-See im Norden der Stadt. Ein bisschen wie in der Seestadt Aspern, bloß ein halbes Jahrhundert älter und ein paar Klimazonen wärmer.

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Liebeserklärung an die Stadt

Der gebauten Utopie widmete das Schweizer Filmduo Karin Bucher und Thomas Karrer nun einen 85-minütigen Dokumentarfilm, der in die Schönheiten und Problemzonen Chandigarhs entführt und dabei Bewohner, Expertinnen und Kulturschaffende zu Wort kommen lässt. "Wir sind beeindruckt von der enormen Gestaltungskraft, die bis heute sichtbar und prägend ist", sagen die beiden gleich zu Beginn des Films. "Uns interessiert Chandigarh als Labor für ein neues Zusammenleben."

Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh ist eine Liebeserklärung an die Stadt, an die fröhliche Entspanntheit auf den Plätzen, an die hohe Wohn- und Lebensqualität in den insgesamt 56 Sektoren, an die wunderschönen, fast bildhauerisch geformten Regierungsbauten im sogenannten Capitol Complex, der seit 2016 Unesco-Weltkulturerbe ist. Oder, wie der in Chandigarh lebende Architekt Siddharta Wig erklärt: "Die Formen dieser Stadt wirken ständig auf die Denkmuster des Menschen ein. In Chandigarh gibt es kein Entkommen vor Le Corbusier. Er ist immer da, er sitzt ständig in deinem Kopf."

Umbau verboten

Doch Chandigarh stößt an seine Grenzen. Einst für 500.000 Menschen konzipiert, hat die Stadt längst die erste Million geknackt. In einem von Le Corbusier erlassenen Edikt ist jede Form von Umbau, Neubau und Nachverdichtung strengstens verboten. Das wiederum schürt die Immobilienpreise und macht die einst demokratisch erschaffene Schönheit dieser Stadt zu einem exklusiven Gut für die obere Mittel- und Oberschicht.

Stellt sich die Frage: Wie lange haben Planungen und Utopien – in einer sich immer schneller drehenden Welt – überhaupt noch Berechtigung? "Das Leben hält nie inne", schrieb Le Corbusier. "Nichts ist übertragbar außer die Gedanken, die Krone unserer Arbeit." Doch genau hier, wo der sinnliche, zutiefst poetisch komponierte Film plötzlich Brisanz und gesellschaftspolitische Dringlichkeit entfaltet, ist er leider auch schon wieder zu Ende. (Wojciech Czaja, 10.4.2024)