Der Supermarkt, wie wir ihn kennen, hat eine lange Geschichte hinter sich. Vom bunten Treiben auf dem Basar über die ehrwürdigen Kaufhäuser bis hin zum Selbstbedienungsladen mit Barcode-Scanner – jede Entwicklung versprach mehr Komfort und Schnelligkeit für die Kundschaft, mehr Effizienz und Gewinn für den Händler. Doch wohin führt uns die Reise als Nächstes? Amazon glaubte, die Antwort gefunden zu haben: "Just Walk Out" – Einkaufen, ohne an der Kassa anstehen zu müssen.

Vor rund sieben Jahren eröffnete der Onlineriese mit "Amazon Go" in Seattle sein erstes Geschäft, in dem man mit den eigenen Einkäufen einfach aus dem Markt hinausspaziert – die Rechnung kommt bequem per App. Möglich war das, weil hunderte Kameras im Markt die Kundinnen und Kunden auf Schritt und Tritt verfolgten und so genau nachvollziehen konnten, wer was aus dem Regal nahm – und wieder dorthin zurückstellte.

Außenansicht eines
Bereits im Dezember 2016 eröffnete Amazon seinen ersten kassalosen Store in Seattle – zunächst nur für Mitarbeitende.
STANDARD/Andreas Proschofsky

Smarter Einkaufswagen

Als "Einkaufen unter Totalüberwachung" bezeichnete Kollege Andreas Proschofsky das Konzept treffend, als er den Amazon-Store in Seattle 2018 testete. Inzwischen gibt es "Just Walk Out" in dutzenden Märkten unter den Marken "Amazon Go" und "Amazon Fresh" sowie einigen Partnerbetrieben wie etwa Flughafenshops. Was Amazon da vorführte, wurde als nichts weniger als die Zukunft des Einkaufens gehandelt.

Doch mit dem kassalosen Einkaufen ist es nun zumindest in den Fresh-Märkten vorbei. Stattdessen sollen Kundinnen und Kunden ihre Einkäufe nun in sogenannte Dash Carts legen, die in einigen Filialen bereits im Einsatz sind. Diese sind zwar auch mehr oder weniger smart – können etwa Produkte scannen oder Gemüse abwiegen –, aber dann doch etwas weniger futuristisch als das KI-gestützte Einkaufserlebnis.

Amazons Schattenbelegschaft

Mit "Just Walk Out" schuf Amazon zwar das kassalose, aber nicht das kassiererfreie Einkaufen. Wie das Medium "The Information" (und DER STANDARD hier) berichtete, war im Hintergrund eine 1.000 Personen starke Schattenbelegschaft beschäftigt, die Videoaufnahmen sichtete und die Einkäufe händisch den richtigen Kundinnen und Kunden zuordnete. Sie arbeitete von Indien aus und – davon kann man ausgehen – zu einem viel mickrigeren Stundenlohn als Supermarkt-Angestellte vor Ort. Laut "The Information" mussten 70 Prozent der Einkäufe manuell überprüft werden, offiziell kommunizierte Amazon einen Wert von rund fünf Prozent.

Kundinnen und Kunden wurde also suggeriert, dass sie es mit einer Künstlichen Intelligenz zu tun haben – die am Ende aber doch stark von menschlicher Unterstützung abhängig ist. Amazon ist Spezialist für solche Fake-KI, betreibt es doch eine eigene Plattform, auf der sich jeder für wenige Cent pro Auftrag simple Aufgaben erledigen lassen kann. Fehlerhafte Texterkennung korrigieren, Bilder beschlagworten, Postings moderieren – was die KI nicht schafft, landet auf Amazon Mechanical Turks, einer Plattform, die der Konzern in Anfangszeiten mit dem Slogan "Artificial Artificial Intelligence" bewarb. (Ich habe mich dort vor einigen Jahren einmal selbst testweise als Clickworker verdingt.)

Eingangsbereich eines
In den Geschäften von "Amazon Go" und in einigen von "Amazon Fresh" wird die Kundschaft mittels hunderter Kameras auf Schritt und Tritt verfolgt.
STANDARD/Andreas Proschofsky

Fake it till you make it

Dass das nicht für immer funktionieren kann, ist klar. Eher lautet das Motto "Fake it till you make it" – die echten Menschen sollen also nur so lange beschäftigt werden, bis die KI gut genug trainiert ist, um die Aufgaben selbst zu übernehmen. Doch nicht immer geht das gut. Es gibt einige KI-Applikationen, die nie über die Fake-Phase hinausgekommen sind, wie Bloomberg anhand einiger Beispiele illustriert.

Bereits 2015 stellte Facebook etwa den Chatbot Facebook M vor, den man als eine Art frühen Vorläufer von ChatGPT beschreiben kann. Er konnte auf Verlangen Tipps für Restaurants oder Produkte geben und über Gott und die Welt sprechen – was virtuelle Assistenten eben so können. 2018 stellte Facebook den Dienst wieder ein – auch weil immer noch Menschen übernehmen mussten, wenn M nicht weiterwusste. Aus den gleichen Gründen musste der persönliche Assistent x.ai zusperren. Bei allem Hype um Künstliche Intelligenz stößt sie eben doch noch häufig an ihre Grenzen.

Viel Aufwand für wenig Komfort

Ist das kassenlose Einkaufen jetzt also tot? Nicht unbedingt. Denn auch andere Handelsunternehmen arbeiten eifrig an der Eliminierung der Kassa, in der Regel in Zusammenarbeit mit dem israelischen Unternehmen Trigo, das sich ganz auf das Thema spezialisiert hat. In Deutschland bieten etwa Rewe und Netto an einigen Standorten das Einkaufen ohne Kassa an. Bei Netto geht das auch ohne App, Registrierung und Gesichtserkennung, identifiziert wird man stattdessen am Knochenbau – wobei man in diesem Fall erst recht wieder an einem Terminal am Ausgang bezahlen muss.

Einkaufen ohne Anstehen ist zweifelsohne bequem. Doch das Beispiel Amazon zeigt, dass das nur mit riesigem Aufwand im Hintergrund geht. Nicht nur die Schattenmitarbeiter in Indien, sondern auch die Kameras und anderes Equipment kosten Geld. Bei den Rewe-Pilotmärkten sind etwa in allen Regalen Gewichtssensoren verbaut, die erkennen, wenn ein bestimmtes Produkt entnommen wird. Rechtfertigt der ganze Tamtam den kleinen Komfortgewinn?

Der Einzelhandel ist ein hartes Business, sagt man, die Margen sind klein, viele Plätze bereits besetzt. Auch Online-Supermärkte mit Sofortlieferung wie Flink, die einst das Einkaufen revolutionieren wollten, taumeln oder sind bereits von der Bildfläche gestürzt. Vielleicht ist die Geschichte des Supermarkts mit dem heutigen Zustand einfach zu einem Ende gekommen. Zumindest vorrübergehend, bis KI das kann, was sich viele heute schon von ihr versprechen. (Philip Pramer, 6.4.2024)