Was ist das für eine Welt, in die wir hier hineingeraten! Flüsse sind unterirdisch verlegt worden, damit niemand ertrinken kann. Schreiben ist eine fast ausgestorbene Kunst. Roboter ersetzen lebende Freunde, geforscht wird nur noch als Freizeitbeschäftigung. Und das ist erst der Anfang.

In ihrem neuen Roman, Perfekte Menschen, versetzt Andrea Grill uns in eine nicht allzu ferne Dystopie. In diese wächst ein Kind hinein, das kein anderes Leben kennt, wenn es auch Ahnungen von einem vergangenen, besseren mitbekommt. Die Eltern sind um sein Schicksal besorgt, zu Recht, denn es wird der Tag kommen, an dem bewaffnete Männer ihnen den Sohn wegnehmen werden, auf dass er das Kriegshandwerk lerne. Mit solchen "Knabenlesen" ließen osmanische Sultane über Jahrhunderte albanische Kinder für eine Elitetruppe zwangsrekrutieren, und Grill nimmt den Mythos eines dieser Krieger als Ausgangspunkt für ihre so spannende wie bestürzende Neudichtung.

Totale technische Kontrolle

Es ist ein Kontinent der totalen technischen Kontrolle, in die der kleine Michael Balaban hineingestoßen wird, irgendwo zwischen dem Balkan, der Türkei und einem Wald unweit Paris. "Nun hatte die Welt geendet, setzte sich aber fort", als Jetztzeit ohne Perspektive auf Veränderung. "Nur ohne Vergangenheit und Zukunft wurde man ein vollkommener Krieger (...), ein perfekter Mensch."

Das Essen kommt aus der Retorte, die Natur aus dem 3D-Drucker. Trost spendet ein elektronisches Gadget, Fieely genannt, von dem das avancierteste heutige Smartphone nur eine blasse Vorahnung ist. Irgendwann wissen weder wir noch Michael, ob er vom wirklichen Leben umgeben ist oder von einer Simulation wie in den Filmen Matrix oder The Truman Show. Merkwürdig, dass Kräne brennen, Pflanzen jedoch nicht, und dass sein Freund Marco so schwer ist. Doch der weitere Verlauf der Geschichte soll hier nicht verraten werden.

Cover
Andrea Grill, "Perfekte Menschen". € 24,50 / 164 Seiten. Leykam-Verlag, 2024
Leykam Verlag

Die in Bad Ischl geborene Andrea Grill ist Schriftstellerin, promovierte Biologin und in mehreren europäischen Kulturen erstaunlich zu Hause (sie übersetzt etwa Gedichte vom Albanischen ins Holländische). Wie in früheren Büchern nutzt sie ihre vielfachen Zugänge für eine facettenreiche Geschichte. Die zunehmende Zerstörung der Umwelt treibt sie ebenso an wie die Verarmung der Sprache und der Schrift – "wer schreiben konnte, dem gehörte die Welt", das hatte Michael begriffen, aber nicht beherzigt, was er später bereuen sollte.

Ein Lob auf das Geschriebene, als Handlungsanleitung oder als Festhalten an einer möglichen Welt, legt die Autorin Michaels Mutter in den Mund, und das belegt sie durch ihren eigenen Text. In einem Gespräch in der Zeit hat sich der Literaturwissenschafter Sebastian Klinger gerade gewünscht, dass Geistes- und Naturwissenschaften einander näherkommen mögen. Perfekte Menschen ist ein äußerst lesbares Beispiel für so eine Annäherung. (Michael Freund, 6.4.2024)