Eimer mit Blut
"Das erste Auftreten von Blut ist immer humorlos", schreibt Millesi über die 96. Nitsch-Aktion in Neapel 1996.
Archiv Cibulka-Frey

Als ich mir das Fruchtfleisch, das Blut und die Scheiße aus den Augen wische, wird mir erst bewusst, dass uns niemand zuschauen kann. Es gibt keine Betrachter. Ein Kunstwerk, wie es sich hier durch uns und an uns verwirklicht, genügt sich selbst. Wenn es vorbei ist, werden wir es abgewaschen haben. Pili lacht. Günther nimmt einen Schluck aus der Doppelliterflasche. Durch eine der Fensteröffnungen ragt eine Posaune zu uns herein. Die in die Länge gezogenen Töne, die sie unablässig von sich gibt, sind uns den ganzen Weg hierher gefolgt. Das monotone Echo eines schier endlos wiederkäuenden Tieres. Es hat sich Zutritt zu unserem Gehirn verschafft. Was nicht Teil dieses Augenblicks ist, verschwindet in ihrem Schalltrichter, um als Ton wieder ausgestoßen zu werden. Am Metall ihres Halses spiegelt sich die Nachmittagssonne.

Wie in der Partitur vorgesehen, sind einige von uns in das Häuschen eingedrungen. Die Überreste der Unterkunft eines früher einmal hier beschäftigten Gärtners. Wir befinden uns auf einer Anhöhe. Zu unseren Füßen Neapel, jenes aus unzähligen wäschebekrönten Gässchen gewobene Netz, in dem sich die verwahrloste Schönheit der Malavita in Form von Drogenhandel, Parkraumbewirtschaftung und mangelnder Müllbeseitigung verfangen hat.

Ehe ich die Schwelle überschritten habe, trifft mich eine Tomate, die ich nicht kommen gesehen habe, am Kinn. Sie zerplatzt in heller Aufregung. Pili lacht. Ich bin zwar erschrocken, der Aufprall hat sich jedoch eher wie ein Knuffen angefühlt. Ein Hinweis, dass ich Teil dieser Situation bin, am Leben, Akteur. Eine Ohrfeige, bei der sich die Handfläche noch an der Backe in triefenden Fruchtfleischmatsch auflöst.

Trog mit Tomaten
Tomaten werden zu Schneebällen und Handgranaten.
Archiv Cibulka-Frey

Ich ziehe die Ärmel meines weißen Shirts bis zu den Handgelenken herunter. Das ist die weiße Leinwand, das ist das Visier an meinem Helm, das ich herunterklappe. Dann schleudere ich zwei Handvoll Trauben in Richtung Pili – zugegeben, nicht gerade inspiriert. Kein überlegter Pinselstrich, höchstens Ausdruck meiner Bereitschaft. Günther macht einen Schritt zur Seite und fängt meine Geschoße mit seinem massigen Körper ab. Es geht darum, getroffen zu werden. Ich bin bereit, zum Nahkampf überzugehen, als Piotr zu uns stößt. Lachend schüttet er den gesamten Inhalt des Eimers, den er bei sich hat, in meine Richtung. Eine volle Ladung ausgelöste Tomaten, darunter ganze Stücke, Saft, Hautfetzen, erwischt mich mitten in der Bewegung. Ich verliere das Gleichgewicht, gerate ins Straucheln und werde von Günther in den Holztrog geschubst. Das macht mich zornig und lässt mich einen triumphierenden Schrei ausstoßen. Mein In-den-Trog-Kippen hat etwas von der Grazie eines Eiskunstläufers. Da er sich nicht verhindern lässt, bemühe ich mich um eine spektakuläre Ausführung. Im Fallen fühle ich mich geborgen. Blätter, Stängel, Haare, tote Insekten, Holzspäne und getrocknete Exkremente vom Boden des Holztrogs geraten mir in den Schlund. Das meiste davon spucke ich wieder aus, wie ich mir aus den Augen wische, was mich an meiner Rolle, Betrachter zu sein, hindert. Es kann nicht alles auf einmal erfasst werden. Die Aufgabe des Kunstwerks beschränkt sich darauf, das Betrachten an sich zu gewährleisten.

Pili versucht meinen Kopf unterzutauchen, aber ich bekomme ihr Shirt zu fassen und ziehe sie zu mir in den Trog. Piotr und Günther bombardieren uns mit Weintrauben und Tomaten. Ich sehe, dass Günther jauchzt oder kreischt, hören kann ich ihn nicht. Es sei denn als Komponente der zu Schlieren in die Länge gezogenen, stetig ansteigenden Lautstärke, die von außen zu uns hereindringt. Als Pili mir entgegenfällt, muss ich an eine betrunkene Unfallfahrt beim Autodrom denken. Die verursacht keine Verletzungen. Auch wir sehen bloß so aus. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Ein Horn und eine Trompete sind im Fensterrahmen aufgetaucht. Was uns als Echo hierhergetrieben hat, staut sich in Anbetracht unseres ausgelassenen Gefechts zu einer in ihrer Bewegung gefangenen akustischen Gischt. Ich kann die Töne in mich dringen hören, ich fühle sie durch mich hindurchgehen. Pilis tomatenverschmierte Haare im Gesicht, rieche ich, wie unbekümmert wir sind. Unsere Heiterkeit liegt mir auf der Zunge – Lebensmittel, Euphorie, Dreck. Ich sehe, wie Piotr zum Wurf ausholt, und frage mich, ob der Klumpen Tomatenmark in seiner Hand ein Schneeball oder eine Handgranate ist. Er ist beides. Das hier ist das richtige Leben. Wir agieren mit Farbe, wir agieren auf einer Bühne, die zugleich Zuschauerraum, Orchestergraben, Foyer, Fluchtweg, Müllraum, Kantine und die Toilette der Kantine ist.

Eine krönende Demütigung

Günther zerdrückt Weintrauben auf Piotrs Kopf. Eine Massage, eine krönende Demütigung, eine als lustvoll empfundene Tortur, eine kultisch anmutende Handlung – Shampoo. Ich hätte jetzt gern einen Schluck aus einer der Doppelliterflaschen. Überall stehen welche herum.

Plötzlich senkt sich ein katastrophaler Niederschlag auf uns herab. Laura ist zu uns an den Holztrog vorgedrungen. Sie hat Blut mitgebracht – eimerweise. Diesmal ist es kein anspornender Knuff. Der Schwall ist eine flüssige Druckwelle, die uns die Köpfe einziehen lässt und den Ausdruck von Ekel auf unseren Gesichtern hervorruft.

Das erste Auftreten von Blut ist immer humorlos. Es assoziiert Gedanken an Versäumnis, Überschwang und Zerbrechlichkeit. Laura wirkt erleichtert. Der Eimer in ihrer Hand muss ganz schön gewogen haben. Sie hat ihn ausgeleert, um uns zu vervollständigen. Um unserer Fröhlichkeit eine Frage zu stellen, um uns – wir können es sehen – in eine wabernde Masse, einen lebendigen Klumpen zu verwandeln. Piotr und Günther sind jetzt bei mir und Pili im Trog. War das so vorgesehen? Aber: War es vorgesehen, dass irgendwer eines Tages in den Überresten dieses Häuschens unter einem dämmrigen Himmel anstelle eines Daches ein Vollbad in Früchten, Wein und Blut nimmt, während von überall her, aus vollem Hals, aus allen Rohren Töne auf ihn niedergehen?

Es ist das erste Mal, dass ich Laute nach mir greifen fühle. Ihre Schärfe kreischt, rinnt, spritzt, sie zwängt sich durch Materie hindurch, spinnt sich in Nervengeflecht wie in den Verkehrsfluss einer Großstadt, deren Zubringer von ihren Ausfahrten gespeist werden. Es ist das Kontinuum der Instrumente, das uns vier, einem akustischen Geländer vergleichbar, aus dem vorübergehenden Schockzustand zurück in die Ausgelassenheit leitet. Die rote Bodenmarkierung, die vom Operationssaal bis ins Aufwachzimmer verläuft. Ist das Blut erst einmal im Mund, in der Nase, in allen erdenklichen Körperöffnungen gewesen, erkennt man sich darin wieder. Vielmehr: Man verschwindet mitsamt allem an anerzogener Zurückhaltung darin. Wir nehmen unsere Polsterschlacht unter Verwendung von in Maische verwandelten Früchten, Gemüse, Kernen, Erde und einem anschwellenden Cluster an Tönen wieder auf. Die Farbe der Bezüge ist rot.

Weitere Instrumente sind eingetroffen. Sie vervollständigen den Satz. Echos überholen einander. Ich höre, was zu hören war und was zu hören sein wird. Ich höre mit meiner Nase, mit meiner blutgetränkten Zunge. Ich höre mit meinen Organen. Zum ersten Mal weiß ich, dass es meine sind, weil ich im selben Moment auch alle anderen bin. Günther zerquetscht eine Tomate an meinem Ohr und versucht sie mir in den Gehörgang zu stopfen. Ich kreische, was nach einem Flügelhorn klingt, und schiebe Günther, was immer ich zu fassen kriege, unter sein Shirt. Günther grunzt, was nach einem Kazoo klingt. Als ich auf meine Hand blicke – es ist eine Hand, die Hand, die mir ins Auge sticht, sobald sich der blutige Schleier einen Moment lang lüftet –, stelle ich fest, dass meine Finger eine Leber halten.

Wäschekorb mit Innereien
Bernie ist eingetroffen. Er hat eine Plastikwanne mit Innereien mit dabei.
Archiv Cibulka-Frey

Bernie ist eingetroffen. Er hat eine Plastikwanne Innereien mit dabei. Ab jetzt wird scharf geschossen. Leichenteile mischen sich unter die durch die Luft fliegenden Trauben und Tomaten. Gehirn, Nieren, Milz, ein nicht vollständig entleerter Darm. Wir machen einfach weiter. Ich sehe ein Gekröse, an dem Fetzen diverser Organe hängen, auf Günther zukommen und frage mich, ob lebenswichtige Eingeweide immer so unecht aussehen. Dann muss ich mich übergeben. Mein Erbrochenes muss mir als Antwort reichen.

Das in Rot getränkte Tollhaus

Günther wird von der Wucht, mit dem ihn das Gekröse trifft, beinahe umgeworfen. Er geht in die Knie, fasst mit beiden Händen nach dem Ungetüm und reißt es sich vom Gesicht. Kurz sieht es so aus, als hätte er sich jegliche Begeisterung mit heruntergerissen, doch dann zeichnet sich ein prekäres Grinsen auf seinen Lippen ab. So sieht die andere Seite nun mal aus.

Das Unerträgliche droht die Oberhand zu gewinnen. Diesmal könnte die Ausgelassenheit Richtung Panik abbiegen. Wir setzen jetzt alles daran, sämtlichen Geschoßen auszuweichen. Empfanden wir es anfangs als Ausdruck der Zuneigung, wenn auf uns gezielt wurde, entspricht es nunmehr dem Versuch, uns ein für alle Mal den Spaß zu verderben. Eine Komödie hat sich in eine Tragödie verwandelt, ohne an Humor einzubüßen. Wir sind es, denen das Lachen vergangen ist. Panzer tauchen auf einem Rummel auf und überrollen rülpsend einige Besucher, die eben noch mit Stoffbällen auf Blechdosen geworfen haben. Die Musik schwillt erneut an, aber diesmal liegt es an meiner Wahrnehmung. Der letzte Filter ist flöten gegangen. Ich empfinde Angst, obwohl alles, was eben noch dazu beigetragen hat, dass ich mich wohlfühle, nach wie vor vorhanden ist. Der Wechsel ist übergangslos erfolgt. Ich bin zwischen zwei Programmen hängengeblieben. Pili bricht in schallendes Gelächter aus. Ein Gelächter, das schmerzt – als dringe es aus einem Sprung in ihrer Hirnschale. Das ganz in Rot getränkte Tollhaus, in das unsere überbordende Lebendigkeit diese Ruine verwandelt hat, offenbart sein Potenzial als Schlachthof wie es auch seine Vergangenheit als Unterkunft des Gärtners nicht vor uns verborgen hat. Wo früher ein Dach war, bricht allmählich der Abend über uns herein. Mit unserer Erschöpfung ist die zweite Hälfte hinzugekommen. Etwas vervollständigt sich und wird dafür sorgen, dass sich der Rückweg anfühlt, als handle es sich um die ersten paar Schritte. (Hanno Millesi, 7.4.2024)