Schild mit der Aufschrift
Fünf bis 15 Jahre Gefängnis drohen einem Angeklagten für die fortgesetzte Gewaltausübung an Unmündigen.
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Wien – Glaubt man dem Anklagetenor, muss Herr G. ein gewalttätiger Familientyrann sein. Bis zu elf Jahre lang soll der 49-Jährige seine damalige Partnerin, einen heute 20 Jahre alten Stiefsohn und die gemeinsame Tochter immer wieder geschlagen, bedroht und genötigt haben. Für diese mehr als ein Jahr währende, fortgesetzte Gewaltausübung gegen Unmündige droht ihm nun eine hohe Strafe: Zwischen fünf und 15 Jahre Gefängnis sieht das Strafgesetz vor. Ob sie verhängt wird, muss ein Schöffensenat unter Vorsitz von Clara Ifsits entscheiden.

"Alles ist eine Lüge!", lässt der Iraner übersetzen und bekennt sich daher nicht schuldig zu den Vorwürfen, die Staatsanwältin Christina Enengl gegen ihn erhebt. Seine Vermutung: Die Ex-Partnerin habe die beiden Kinder gegen ihn aufgehetzt, und diese würden der Mutter zuliebe lügen. Denn, so sein zentrales Argument: Er leide seit seiner Geburt an Muskelschwund und sei körperlich gar nicht in der Lage, die angeklagten Gewalthandlungen begangen zu haben. Tatsächlich erscheint er mit zwei Nordic-Walking-Stecken im Verhandlungssaal und kann sich nur mühsam und offenbar unter Schmerzen fortbewegen.

Anklägerin Enengl glaubt das nicht: Schließlich sei ein medizinisches Gutachten eingeholt worden, der Sachverständige sei zum Schluss gekommen, dass G. selbst bei der Untersuchung im November 2023 noch genug Kraft in den Oberarmen hatte. Angesichts des progressiven Verlaufs der Erkrankung könne man also mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er in den Jahren 2011 bis 2022 fit genug gewesen sei, um Frau und Kinder mit der flachen Hand und der Faust zu schlagen und zumindest in einem Fall den auf dem Boden liegenden Stiefsohn zu treten.

"Die Frau war meine Pflegerin"

Die zwölfjährige Tochter des Angeklagten sagte bei ihrer kontradiktorischen Einvernahme, dass der Vater gar nicht krank sei und daheim oft ohne Stecken gehe. Der Arbeitslose selbst erklärt dagegen, er könne dieser Tage eigentlich nur mehr im Bett liegen und einmal täglich mit dem Hund Gassi gehen – Einkäufe und Besorgungen würde ein Freund erledigen. So sei sein Zustand bereits seit Jahren: "Die Frau war meine Pflegerin!", erklärt der Angeklagte.

Kennengelernt hatte sich das Paar in der Heimat, die Frau war da noch verheiratet und hatte zwei Kinder. "Sie musste von ihrem Mann befreit werden", erklärt der Angeklagte, daher seien sie, er und der Stiefsohn im Jahr 2011 nach Österreich gekommen, erzählt der Angeklagte. Ein Jahr später kam die gemeinsame Tochter zur Welt. "Die ersten ein, zwei Jahre waren okay, dann hat sie begonnen, Alkohol zu trinken und fortzugehen, wo sie auch Männer kennenlernte", sagt G., die endgültige Trennung habe im Sommer 2023 stattgefunden.

Auch dem Stiefsohn wirft er vor, ab dem Alter von zwölf Jahren E-Zigaretten geraucht und regelmäßig Alkohol konsumiert zu haben. Er habe sogar einmal selbst die Polizei gerufen, nachdem der Jüngere ihn attackiert habe. "Haben Sie ihn je geschlagen?", will Vorsitzende Ifsits wissen. "Wenn jemand nicht auf den eigenen Beinen stehen kann, wie kann man dann jemanden angreifen?", lautet die Gegenfrage, die die Vorsitzende nicht befriedigt. "Das war eine Ja/Nein-Frage. Haben Sie Ihren Sohn je geschlagen?" – "Nein."

Unwilliger Angeklagter

Die Vorgehensweise, Fragen mit Gegenfragen zu kontern oder abzuschweifen, zieht sich durch die gesamte Vernehmung. An dessen Ende fordert Ifsits den Angeklagten, gegen den in der Vergangenheit zwei Betretungsverbote erlassen wurden, auf, auf der Bank vor seinem Verteidiger Platz zu nehmen. "Warum soll ich mich dort hinsetzen?", ist der unwillig. "Weil ich es Ihnen sage!", stellt die Vorsitzende die Verhältnisse klar. G. seufzt und humpelt an den zugeteilten Platz.

Elf Jahre lang soll der Stiefsohn mindestens einmal im Monat geschlagen worden sein, die leibliche Tochter sogar fünf Jahre lang einmal wöchentlich. Gegenüber der Partnerin soll G. seltener handgreiflich geworden sein, etwa indem er ihr drohte, der im Iran zurückgebliebenen Tochter das Gesicht mit einem Säureanschlag verstümmeln oder den Enkelsohn entführen und töten zu lassen. Für den Stiefsohn fordert der Privatbeteiligtenvertreter 18.300 Euro Schmerzensgeld, für die Tochter 13.500 Euro, die Ex-Partnerin begnügt sich mit 1.000 Euro.

Etwas seltsam scheint aber, dass im Akt trotz dieser angeblichen Gewaltorgie nur ein Verletzungsfoto – ein Kratzer am Unterarm der Frau – existiert. Die beiden Zeuginnen der Anklage bleiben auf Nachfrage eher vage. Eine Pensionistin, die sich um den Stiefsohn kümmerte, kann nur sagen, das Kind habe ihr von Schlägen erzählt. Verletzungen habe sie aber nie wahrgenommen. Eine gute Freundin der Frau sagt, diese habe ihr gegenüber nie etwas von Gewalt erzählt, bei ihren Besuchen habe sie auch nur einmal einen verbalen Streit des Paares mitbekommen. Außerdem hält sie fest, dass G. "nur sehr schlecht gehen konnte".

Vermischte Erinnerungen

In den vorgeführten Videoaufnahmen der Aussagen der Familienmitglieder werden zwar einzelne Aktionen sehr genau geschildert, auf Nachfragen des Verteidigers gibt aber beispielsweise der Stiefsohn zu, dass er zwar "kein Bild" der Vorfälle im Kopf habe, "aber ich weiß, dass es passiert ist". Ob ihm das allerdings die Mutter geschildert hat, er sie darüber sprechen gehört hat oder sich selbst erinnern kann, bleibt unklar.

Schließlich sorgt der Verteidiger für eine Überraschung, als er ein Ergänzungsgutachten zur medizinischen Expertise beantragt. Er legt Unterlagen vor, die dem Sachverständigen angeblich im November noch unbekannt gewesen seien. "Mein Mandant hat sie mir auch erst heute gegeben", bedauert der Verfahrenshelfer. So sagt der Angeklagte unter anderem, er habe im Jahr 2013 einen "Rückenbruch" erlitten, nun soll geklärt werden, wie sich diese mögliche Verletzung auf die Bewegungsfähigkeit G.s ausgewirkt hat.

Nach kurzer Beratung gibt der Senat diesem Antrag statt, Vorsitzende Ifsits vertagt daher auf den 27. Mai. (Michael Möseneder, 10.4.2024)