Helena Třeštíková blickt auf ein vielseitiges Dokumentarfilmwerk zurück und war 2007 ganz kurz tschechische Kulturministerin. Am Wochenende gastiert sie im Filmmuseum.
Helena Třeštíková blickt auf ein vielseitiges Dokumentarfilmwerk zurück und war 2007 ganz kurz tschechische Kulturministerin. Am Wochenende gastiert sie im Österreichischen Filmmuseum.
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"Die Zeit verfliegt so schnell", sagt Petr, der Protagonist in Helena Třeštíkovás Dokumentation Soukromý vesmír (Private Universe) von 2012. "Du lebst und lebst, und kaum schaust du zurück, bist du schon 60 Jahre alt." Petr ist in der 37 Jahre umspannenden Langzeitdokumentation der Erzähler seines eigenen Lebens und des Lebens seiner Familie. Die lebt in der Tschechoslowakei, und sie wächst schnell. 1974 kommt Honza auf die Welt. Die junge Mutter Jana muss sich erst an das Baby gewöhnen: "Er sah komisch aus", sagt sie. Ein ganz normales Baby, denkt sich das Publikum.

Zwei weitere Male sieht man Jana Babys im Arm halten: Anna (1977) und Eva (1982). Jana fällt das Zuhausebleiben nicht schwer. "Es fällt mir leicht, zu Hause bei den Kindern zu bleiben. Ich weiß, dass ich im Feld der Soziologie nichts erreichen kann, weil ich keine Kommunistin bin", sagt sie. Und später gibt Jana zu, das zwangsverordnete ruhige Leben in der nach Westen hin abgeschotteten Tschechoslowakei genossen zu haben. Sie sei keine emanzipierte Frau gewesen, sie habe keine Karrierepläne gehabt. Erst nach er Wende engagiert sie sich in der Politik.

Mit Karel Gott ins Weltall

Dieses private Universum, das Helena Třeštíková aufspannt, ist geprägt vom Familienleben. Dazwischen funkt die Politik. Im Fernsehen werden die Mondlandungen der Russen, der Amerikaner und später der Tschechen begeistert verkündet. Dazwischen singt Karel Gott seine zarten Melodien. Mithilfe des tschechischen Barden und der Liebe zur Raumfahrt überwindet die Familie ihre privaten Konflikte und die der Außenwelt: das Ende des Sozialismus mit den anstehenden Privatisierungen oder Honzas radikale Punk-Phase.

DAFilms

Die Filmografie der mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichneten renommierten tschechischen Regisseurin Helena Třeštíkova umfasst etwa 50 Dokumentarfilme. Frühestens beginnen sie, wie Private Universe, Mitte der 1970er-Jahre und reichen bis in die Gegenwart. Aber nicht nur die brave Mittelklasse findet sich vor ihrer Linse, sondern auch historische Persönlichkeiten und diejenigen, die die sozialistische und postsozialistische Gesellschaft an den Rand gedrängt hat.

Prekäres Leben nach der Wende

Die bereits seit Anfang März im Österreichischen Filmmuseum stattfindende Schau zu Langzeitdokumentarfilmen feiert dieses Wochenende mit der Einladung Třeštíkovás ihren Höhepunkt. Die Regisseurin, die 2007 ganz kurz tschechische Kulturministerin war, ist zu Gast und wird in einer Masterclass und Filmgesprächen in ihr Schaffen einführen.

Zu sehen sind Private Universe und einige ihrer Studien über weniger privilegierte Familien. Mallory von 2015 etwa. Der beginnt auch mit einer Geburt, doch die Voraussetzungen sind weniger friedlich als bei Petr und Jana. Denn die Protagonistin ringt mit ihrer eigenen Alkoholabhängigkeit und der ihres Partners. Třeštíkova dokumentiert 13 Jahre, in denen Mallory gegen Sucht und Prekarisierung ankämpft.

DOK.fest München

Ähnliche Probleme hat René, der ganzkörpertätowierte Jugendstraftäter in der gleichnamigen, 2008 mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichneten Doku. 2021 gab es mit René – Vězeň svobody (René – The Prisoner of Freedom) eine Fortsetzung zu dem nun über Vierzigjährigen, der sein halbes Leben im Gefängnis verbracht hat und durch Třeštíkovás erstes Filmporträt zu einer kleinen Berühmtheit geworden ist. Auch das reflektiert die Chronistin immer mit: die Grenzen des Ethischen im Dokumentieren von Lebensläufen und die Verantwortung gegenüber ihren Protagonisten und Protagonistinnen. (Valerie Dirk, 12.4.2024)