Kaum ein Thema hat Europa in den vergangenen Jahren so stark geprägt wie der russische Überfall auf die Ukraine. Solidaritätsbekundungen – zumeist nur symbolische – gehören noch immer zum guten Ton; doch nach mehr als zwei Jahren Verteidigungskampf gegen den Aggressor hat die Aufmerksamkeit nicht nur medial abgenommen. Der Umstand, dass kurz vor der Europawahl auf dem Kontinent wieder einmal das Gespenst des aufstrebenden Rechtspopulismus umgeht, sollte allen zu denken geben, erklärt Ivanna Volochiy, die im Juni für das Europaparlament kandidiert. Sie merke bereits jetzt, dass das Thema in den Hintergrund trete – fast so, als würde der Krieg den Rest von Europa nicht mehr betreffen. Deshalb spricht sie sich dafür aus, dass viel mehr Parlamentarier und Parlamentarierinnen in die Ukraine reisen. "Politiker müssen sich selbst ein Bild von der Lage machen", sagt sie zum STANDARD. Nur so könne man gegen das Vergessen ankommen. Oder gegen das Verdrängen.

Ivanna Volochiy in Brüssel: Die gebürtige Ukrainerin – nunmehr Belgierin – will ins EU-Parlament.
Ivanna Volochiy in Brüssel: Die gebürtige Ukrainerin – nunmehr Belgierin – will ins EU-Parlament.
Daniela Prugger

Die 42-Jährige bahnt sich ihren Weg durch das Gebäude des EU-Parlaments in Brüssel und steuert auf ihrer Suche nach einer ruhigen Ecke für das Interview auf den Fahrstuhl zu. Im obersten Stock nimmt Volochiy vor einer hohen Fensterfront Platz, die den Blick auf den bewölkten Himmel über Brüssel freigibt – die Stadt, in der die gebürtige Ukrainerin seit Jahren lebt und arbeitet.

Weil sie mittlerweile die belgische Staatsbürgerschaft besitzt, konnte die Partei Par! aus Lettland der nunmehrigen EU-Bürgerin im Februar die Spitzenkandidatur auf ihrer Liste anbieten. Sie selbst habe an eine Kandidatur vorher gar nicht gedacht, sagt Volochiy, die bisher als Community-Managerin für die Fraktion Renew arbeitete, der auch die österreichischen Neos angehören. Seit der Ankündigung habe sich ihr Leben stark verändert. "Ich muss mich noch daran gewöhnen, im Rampenlicht zu stehen, an die Interviews und daran, dass mich Leute erkennen", sagt sie.

Grünes Licht für Verhandlungen

Die Partei Par! (Deutsch: Dafür!) erklärt den Sieg der Ukraine und ihren Beitritt zur EU und zur Nato in ihrem Wahlprogramm als zentrale Punkte. Auf der Suche nach einer geeigneten Kandidatin, die den proukrainischen Kurs des baltischen Staates repräsentiere, habe man sich auf Volochiy geeinigt. "Es ist mir wichtig zu sagen, dass ich im Herzen Ukrainerin bin – aber mein politisches Interesse gilt natürlich Lettland und Europa", sagt Volochiy. Aber die Folgen, die der russische Angriff auf die europäische Sicherheits- und Außenpolitik, die Landwirtschaft oder den Energiesektor hat, zeige einmal mehr, warum der Fokus in Europa auch weiterhin auf der Ukraine liegen muss.

Volochiy selbst verließ die Ukraine und ihre Heimatstadt Iwano-Frankiwsk mit 20 Jahren zum ersten Mal, um in London Englisch zu lernen. Danach schloss sie ihr Studium an der angesehenen Kiewer Mohyla-Universität ab und hängte in Maastricht einen Master in Europastudien an. Es folgte ein Praktikum bei der Europäischen Kommission. Damals, erinnert sie sich, war die Stimmung auch in Brüssel noch eine andere. "Im Jahr 2007 wurde ich als Ukrainerin noch ständig gefragt, ob ich Russin sei, weil auf meinem Ausweis stand, dass ich in der Sowjetunion geboren bin", sagt sie.

Wie weit entfernt sich Volochiy und der Großteil der Menschen in der Ukraine mittlerweile von der sowjetischen Vergangenheit fühlen, zeigen die Umfragen seit Beginn der russischen Invasion im Jahr 2022: Der Wunsch der Bevölkerung, der Europäischen Union beizutreten, liegt bei mehr als 90 Prozent. Mittlerweile hat das Land auch den Kandidatenstatus und grünes Licht für Verhandlungen erhalten. Die Gespräche selbst haben allerdings noch nicht begonnen; die Ukraine erfüllt trotz ihrer Anstrengungen und Fortschritte im Kampf gegen Korruption und den Einfluss der Oligarchen noch nicht die Kriterien für einen EU-Beitritt.

Europawahl als Vorbote

Der Umstand, dass laut BBC-Recherchen seit Beginn des Angriffskriegs etwa 650.000 ukrainische Männer im wehrpflichtigen Alter die Ukraine in Richtung Europa trotz Ausreiseverbots verlassen haben, zeige nur eine weitere Facette der Korruption in ihrem Land. "Auf persönlicher Ebene kann ich aber niemanden dafür verurteilen", erklärt Volochiy. "Denn es gibt viele Menschen, die noch in der Ukraine sind und nicht zur Armee gehen wollen." Die Kluft zwischen den Ukrainern, die den 24. Februar 2022 aus der Ferne erlebt oder nach Kriegsbeginn geflohen sind, und jenen, die unter den ständigen Angriffen leben, sei mittlerweile nicht zu leugnen. "Der Krieg ist für uns alle eine traumatische Erfahrung, aber auf eine andere Art, weil wir, die nicht dort sind, nicht verstehen können, wie es sich anfühlt", erklärt Volochiy.

Volochiy ist davon überzeugt, dass die Zukunft der Ukraine in der EU liegt, und erklärt, dass Reformen und ein Umdenken nicht nur in der Ukraine, sondern auch in der EU stattfinden müssten, um konstruktiv arbeiten zu können. Als wichtigste nennt sie die Agrarreform, die Haushaltsreform und die institutionelle Reform. "Ein Hauptproblem ist die Einstimmigkeit. Noch ist es so, dass einige Sicherheitsentscheidungen von Mitgliedsstaaten blockiert werden können – wie wir an Ungarn und an Viktor Orbáns Erpressungen sehen."

Aus Solidarität mit den Menschen in der Ukraine wird in Brüssel und Straßburg (Bild) sehr oft neben den EU-Mitgliedsflaggen auch die ukrainische Flagge gehisst.
Aus Solidarität mit den Menschen in der Ukraine wird in Brüssel und Straßburg (Bild) sehr oft neben den EU-Mitgliedsflaggen auch die ukrainische Flagge gehisst.
Imago / Dwi Anoraganingrum

Für Orbáns Partei Fidesz sitzt seit 2014 ebenfalls eine Ukrainerin im Europaparlament: Andrea Bocskor wuchs selbst im westukrainischen Transkarpatien auf. Sollte Par! bei der Wahl im Juni die Fünf-Prozent-Hürde überspringen und Volochiy es ins Parlament schaffen, wäre sie also nicht die erste Ukrainerin im Parlament – könnte aber ein Gegengewicht darstellen. Denn nicht nur in Österreich, sondern auch in Frankreich und Deutschland haben rechte, Russland-freundliche Parteien in den Umfragen zuletzt wieder zugelegt. Eine Tendenz, die sich laut Prognosen der Plattform Europe Elects wohl auch bei der Europawahl durchschlagen wird.

Ob sich die Solidarität für die Ukraine ändert, lässt sich daran nicht festmachen. Immerhin hat die Europäische Union der Ukraine vor kurzem die Zahlung von 50 Milliarden Euro an Finanzhilfen mit einer Laufzeit bis Ende 2027 zugesichert. Doch die Tendenz zu den rechten Parteien habe im weiteren Sinne auch mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und mit den gefühlten Folgen des Konflikts für die Wähler und Wählerinnen zu tun, erklärt Paul Schmidt, Generaldirektor der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE). "Nationalpopulistische und EU-kritische Parteien wie die FPÖ nutzen jede Möglichkeit, die Europäische Union zu bashen und bestimmte Entwicklungen, also hohe Inflationsentwicklung, wenig Wirtschaftswachstum und so weiter, auf Konflikte in der Nachbarschaft zurückzuführen“, so Schmidt.

Desinformation vor der Wahl

Im Jänner führte die ÖGfE eine österreichweite Online-Umfrage durch. Dabei sprachen sich die Befragten dafür aus, dass sich die EU vor allem der Bekämpfung der Inflation widmen soll. Eine geringe Priorität dagegen hat laut Umfrage die Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland (45 Prozent der Befragten). An letzter Stelle landete eine EU-Erweiterung. Schmidt sieht die Ergebnisse der Europawahl daher als Vorbote. "Parteien wie die Le-Pen-Partei in Frankreich, die FPÖ oder auch die AfD sehen die Europawahlen als erste Etappe für die Nationalratswahlen, die ihnen wesentlich wichtiger sind", erklärt er.

Und dann komme noch die US-Wahl dazu – eine Gemengelage, die wesentlich riskanter sein könnte. Zwar sei Kriegs- und Krisenmanagement Regierungsangelegenheit – und die Parlamente, egal ob national oder europäisch, spielen dabei eine geringere Rolle. Dennoch könnte ein Rechtsruck auch im Parlament langfristig und realpolitisch Auswirkungen auf die Ukraine-Politik der Europäischen Union haben, so Schmidt. Vor allem dann, wenn es um die Prioritäten des nächsten Parlaments und um die Positionsbesetzungen gehe.

Dazu kommt, dass sich im Vorfeld der Europawahl im Juni die Warnungen vor versuchter Einflussnahme aus dem Ausland, Desinformation und Falschinformationen häufen. Ein jüngstes Beispiel für prorussische Propaganda: die Plattform "Voice of Europe", über die laut dem tschechischen Geheimdienst auch Geld an rechte Politiker geflossen sein soll. Und auch davon abgesehen, sagt Volochiy zum STANDARD, solle man sich keine Illusionen machen. "Ich sage das schon seit langem, dass es überall Spione gibt. Dafür muss man nicht im Parlament sitzen. Es gibt verschiedene Jobs in diesem Haus, als Übersetzer, in der Kantine und so weiter."

In Brüssel, weit entfernt von der umkämpften Front, an der sich die Situation laut dem ukrainischen Oberbefehlshaber Olexandr Syrskyj zuletzt "erheblich verschlechtert" habe, spricht Volochiy von einer paradoxen Situation für ihr Heimatland. Auf der einen Seite würden viele Menschen für ihren Traum vom Leben in Freiheit und einer Zukunft in Europa sterben. "Auf der anderen Seite beschleunigt der Krieg den Integrationsprozess." Dennoch herrscht im umkämpften Land eine gewisse Ungeduld, wenn es um den Beitritt geht. Volochiy sieht sich hier in der Vermittlerrolle. "Ich weiß, dass in der Ukraine viele Leute kritisieren, dass Europa nicht genug tut, dass es mehr hätte tun sollen. Aber ich weiß auch, wie Europa funktioniert, dass die Entscheidungen gemeinsam getroffen werden müssen." (Daniela Prugger aus Brüssel, 21.4.2024)