Geld
Eine unbekannte Organisation lässt sogenannte Läufer auf Kosten von Opfern Kredite beantragen. Gescheitert ist einer von ihnen letztlich an seiner eigenen Schlampigkeit.
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Ali (Name geändert, Anm.) soll zur Befragung in die Polizeiinspektion kommen. Er ist vorbestraft, ein Kleinkrimineller. Deswegen ist er in der polizeiinternen Datenbank aufgeschienen. Bei gleich zwei verschiedenen Kriminalfällen hat ihn die Gesichtserkennungssoftware der Polizei identifiziert. Der in Wien geborene Österreicher wird des Betrugs verdächtigt. Deshalb will ihn ein Beamter verhören. Auf seine erste Ladung hat der 22-Jährige nicht reagiert. Daher ruft ihn der Polizist an. Ali willigt ein und legt auf.

Bald darauf klingelt das Telefon des Beamten erneut. "Brudi, brauch sofort Haarschnitt!", sagt Ali unvermittelt in den Hörer. Offensichtlich hat er die falsche Nummer erwischt. Der Beamte weist ihn zurecht. Er habe sich nicht die Haare zu schneiden, sondern sofort in die Inspektion kommen. Als Ali dort aufkreuzt, ist sein Kopf kahlgeschoren und sein Bart glattrasiert. Viel sagen wird er nicht, nur, dass die Polizei wohl seine Cousins sucht, die würden ihm "ähnlich sehen".

Gefälschte Ausweise

Dies ist nicht die einzige merkwürdige Anekdote rund um den wochenlangen Beutezug des Ali S. Laut Ermittlungsakten soll sich alles so abgespielt haben: Ali hat sich mittels gefälschter Ausweise als mehrere unterschiedliche Männer ausgegeben. Alle vier hat er in leerstehenden Wohnungen angemeldet. Er hat unter fremden Namen online Bankkontos erstellt und Kredite in Höhe von tausenden Euros beantragt. Und er ist in mehrere Handyshops spaziert, um dort mit falscher Identität teure Verträge abzuschließen und dafür iPhones einzuheimsen. Es ist eine Verbrechensserie, wie sie nur im 21. Jahrhundert stattfinden kann.

Gescheitert ist Ali letztlich an seiner Schlampigkeit. Kommende Woche steht er wegen des Verdachts des schweren Betrugs in Wien vor Gericht. Er ist lediglich ein "Läufer", wie die Polizei es nennt. Eine unbekannte kriminelle Organisation heuerte ihn – und, so vermutet die Polizei, auch andere – im Netz via Messenger an. Ali bekommt eine Anleitung, der er nunmehr minutiös folgt. Seinen Kontakt bekommt er nie persönlich zu Gesicht, stattdessen vereinbart Ali mit diesem unterschiedliche Treffpunkte, an denen er Gegenstände abgeben und abholen soll.

Die Handysignatur

Zunächst erhält Ali drei gefälschte Personalausweise. Die Namen, die darauf stehen, und die Geburtsdaten sind echt. Sie gehören drei Österreichern, die noch nichts von dem erahnen, was bald geschehen wird. Nur das Foto ist ein anderes, nämlich eines von Ali.

Damit geht er im Jänner des Vorjahres zu unterschiedlichen Standorten der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Er fordert jeweils neue Handysignaturen an. Wie die Polizei moniert, soll es an keinem der Standorte zu einer Überprüfung der Identität gekommen sein.

Eine Sprecherin der ÖGK sagt auf Anfrage, dass die Gesundheitskasse im Mai 2023 von dem Handysignatur-Anbieter A-Trust zu Betrug mit gefälschten Personalausweisen informiert worden sei. Von da an hätte man weitere Identitätsdokumente angefordert.

Zurück im Jänner: Ali beziehungsweise seine Auftraggeber bekommen Zugriff auf die Handysignatur eines Opfers. Die registrieren sie auf eine Handynummer der Haupttäter. Damit stehen ihnen sämtliche Behördenwege offen. Die Nummern haben sie auf Fantasienamen im Ausland registriert, wodurch sie für die Polizei nicht greifbar sind.

Das Verbrecherkollektiv meldet die Opfer auf leerstehende Adressen um. So sollen diese nichts von den Machenschaften mitbekommen. Dann registrieren sie jedes der Opfer erstmals bei einer Online-Bank. Alle Daten, die sie angeben, Adresse, E-Mail und Handynummer, sind gefälscht.

Beutezug im Handyshop

Nun geht Ali auf Beutezug. Er fängt klein an. Er spaziert in einen Handyshop und will einen neuen Mobilfunkvertrag abschließen. Der Tarif, den er gewählt hat, ist einer der teuersten – dafür bekommt er ein iPhone "gratis" dazu. Er legt einen Ausweis auf den Tisch. Auf dem Foto ist er zu sehen. Der Name auf dem Dokument lautet auf Michael. Der Mitarbeiter schöpft keinen Verdacht. Bingo, dürfte Ali gedacht haben.

Denn noch im selben Einkaufszentrum will er die Tat wiederholen. Also spaziert er in einen weiteren Handyshop. Das Sackerl mitsamt Logo des anderen Mobilfunkers nimmt er mit. Das nagelneue iPhone tritt hervor.

Ali will auch hier als "Michael" einen neuen Mobilfunkvertrag abschließen. Dem Mitarbeiter, der ihn bedient, fällt das Smartphone in Originalverpackung auf. Er wird stutzig.

Flucht im Einkaufszentrum 

Die Belegschaft prüft also den Personalausweis. Ihr Fazit: Der dürfte gefälscht sein. Kurze Zeit später ist die Polizei da. Ali soll mit in die Inspektion kommen, die Beamten wollen seine Identität und den Ausweis überprüfen.

Damit hätte Alis Raubzug schon zu Ende sein können, bevor er richtig begonnen hat. Doch die Beamten nehmen ihn als äußerst kooperativ wahr, wie sie später schildern – und bleiben nicht wachsam genug. Während sie gemeinsam durch das Einkaufszentrum gehen, bemerkt Ali einen Notausgang. Er wittert seine Chance – und sprintet los. Die Polizisten jagen ihm hinterher. Ali hechtet über eine mehrspurige Straße, die Beamten laufen ihm nach. Doch Ali rennt in eine Wohnsiedlung und verschwindet spurlos. Auch die später von den Polizisten angeforderte Verstärkung kann ihn nicht mehr ausfindig machen.

Zehntausende Euro Schaden

Dutzende Male wird Ali noch in Handyshops gehen und mit falschem Ausweis teure Verträge abschließen. Inzwischen ist er vorsichtiger. Die Geräte gibt er an von den Haupttätern bestimmten Standorten ab – und bekommt dafür Bargeld.

Die Gruppe geht noch einen Schritt weiter. Sie eröffnet bei verschiedenen Banken unter falschem Namen und mit Alis Foto ein Konto. Dann beantragt sie Kredite in Höhe von tausenden Euro. Insgesamt, so wird es die Polizei später feststellen, konnten die Täter Geld und iPhones im Wert von über 30.000 Euro einstreifen. Wenn die Ermittlerinnen und Ermittler Ali nicht oder zu spät erwischt hätten, wären es mehr als 100.000 Euro gewesen.

Es dauert fast vier Wochen, bis Ali wieder einen Fehler macht – diesmal einen entscheidenden. Wieder registriert er sich bei einer Bank und beantragt dann einen Kredit. Nur: Diesmal verwendet er dasselbe Foto für zwei unterschiedliche Identitäten. Die Betrugssoftware der Bank schlägt Alarm. Die Polizei lässt das Foto via Gesichtserkennung scannen – und findet Ali.

Falsche Wohnung

Der versucht sich zunächst zu winden. Als die Polizei seine Wohnung durchsuchen möchte, führt er sie stattdessen zu einer fremden Bleibe, zu der er nicht einmal einen Schlüssel hat. Die – offenbar eingeschüchterten – Bewohner behaupten, dass er hier wohne. Doch als ein Beamter Ali in der Küche um einen Löffel bittet, braucht er drei Anläufe.

Schlussendlich bringt ihm auch das nichts. Ali sitzt aktuell in Untersuchungshaft, kommende Woche wird ihm der Prozess gemacht. Er muss sich wegen mehrer Straftaten verantworten: Urkundenfälschung, schwerer Betrug, ein Autokennzeichen soll er in einem anderen Fall auch gestohlen haben. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Doch was ist mit den Masterminds hinter dem Beutezug? Und wie steht es um die Opfer? Einer von ihnen ist Klemens, ein junger Informatiker. Wahrend er im Kaffeehaus an seinem Sodawasser nippt, wirkt er entspannt. Das war nicht immer so. "Ich konnte monatelang an nichts anderes denken", erzählt er. Auch nachdem Ali gefasst wurde. Fast schon obsessiv recherchierte er, was die Tätergruppe womöglich noch mit seiner Identität anstellen könnten, ob und welche Konsequenzen das für ihn haben kann. "Es war einfach ein riesiger Schock", sagt er, vor allem, weil er sich eigentlich immer bemühe, sorgsam mit seinen Daten im Netz umzugehen. Der Stress, die Angst führten bei ihm im vergangenen Jahr zum Jobverlust. Heute geht es ihm besser. "Ich habe bei meinen Online-Profilen nicht einmal ein Foto drin. Ich fragte mich: Warum gerade ich?"

Tätergruppe 

Das ist eine Frage, auf die er wohl keine Antwort bekommen wird. Name, Adresse, Geburtsdatum: Das sind die einzigen Daten, die Ali und seine Komplizen brauchten, um dutzende Male zu betrügen. Hätte Ali weniger schlampig agiert, wäre er womöglich nie erwischt worden. Dabei besaß er nur Daten, die so ziemlich jeder Onlineshop sammelt. Daten, die irgendwo im Internet herumschwirren – von uns allen. Die Polizei habe ihm gesagt, erzählt Klemens, dass die Daten womöglich vom Gis-Datenleck im Jahr 2020 stammen. Damals sind der Gesellschaft, welche die ORF-Beiträge der Österreicherinnen und Österreicher verwaltete, just diese Informationen abhandengekommen. Wenn das stimmt, hätte die gesamte Bevölkerung zum Opfer werden können.

Und könnte es immer noch werden. Denn jene Tätergruppe hinter dem Kriminalfall, die Ali online angeheuert hat, wurde in diesem Fall nicht ermittelt. Die Behörden konnten zudem die Fälscherwerkstatt, die sich vermutlich in Wien befindet, nicht finden. Es ist gut möglich, dass die Verantwortlichen nach wie vor "Läufer" suchen – und ihr Unwesen treiben. (Muzayen Al-Youssef, 20.4.2024)