In der Wahlnacht lässt Gerald Depaoli seiner Enttäuschung freien Lauf. "Die Innsbrucker wollen’s offensichtlich nicht", sagt der Bürgerlisten-Kandidat bei der Innsbrucker Gemeinderatswahl vor einer Woche in die Kamera. "Ich behaupte sogar: Liebe Innsbrucker, ihr habt uns, ihr habt Leute, wie wir sind, mit Handschlagqualität, bodenständig und rustikal, ihr habt uns gar nicht verdient!"

Depaoli ist frustriert – dabei hat seine Liste sogar leicht zugelegt, von 3,1 auf 3,5 Prozent. Aber: Erstmals kam in Innsbruck die Vier-Prozent-Hürde zum Einsatz, um eine neuerliche Ansammlung von Kleinstparteien im Stadtparlament zu verhindern. Und so verpasste Depaoli den Einzug in den Gemeinderat, den er vor sechs Jahren noch geschafft hatte.

Innsbruck hat die Vier-Prozent-Hürde neu eingeführt, beiNationalratswahlen gilt sie längst. Aber ist sie sinnvoll?
APA/MAX SLOVENCIK

Bei Nationalratswahlen gilt die Vier-Prozent-Hürde längst. Etliche Parteien scheiterten in der Vergangenheit an der Sperrklausel – darunter auch die Grünen im Jahr 2017. Bei der kommenden Wahl wird es vor allem für die Bierpartei und die KPÖ eng. Umfragen zeigen beide Parteien im niedrigen einstelligen Prozentbereich.

Aber auch sonst wird es auch bei der kommenden Wahl wieder einige Kleinparteien geben, die an der Hürde scheitern. Bei der letzten Wahl 2019 waren es acht Parteien, die den Einzug nicht schafften. Kritikerinnen und Kritiker der Sperrklausel wünschen sich schon länger niedrigere Hürden zugunsten der Parteienvielfalt. Doch die Hürde erfüllt auch demokratiepolitische Zwecke. DER STANDARD gibt einen Überblick.

Ja, es braucht sie. 

Die Sperrklausel garantiert vor allem eines: Stabilität für Parlament und Regierung. Niedrige Prozenthürden haben in vielen Ländern ein völlig zersplittertes Parlament zur Folge. In den Niederlanden, wo eine Partei nur 0,67 Prozent der Stimmen für den Einzug ins Parlament braucht, sind zum Beispiel ganze 15 Parteien im Parlament vertreten.

Die Parteienvielfalt im Parlament, die sich viele in Österreich in einem höheren Maße wünschen, bringt viele Schwierigkeiten mit sich. Kleinparteien, die es dank einer niedrigeren Prozenthürde nur knapp in den Nationalrat schaffen und wenig Mandatare haben, könnten keinen eigenen Parlamentsklub im Nationalrat gründen. Für diesen braucht es mindestens fünf Abgeordnete.

Ohne Klub stellt sich die Frage, ob für die Abgeordneten überhaupt sinnvolle Parlamentsarbeit möglich ist. Denn mit dem Klubstatus gehen gewisse Rechte einher, wie etwa das Stimmrecht in Ausschüssen, wo bekanntlich die zentrale Parlamentsarbeit über die Bühne geht.

Kleinparteien haben es aufgrund ihrer sehr begrenzten Ressourcen und des kleineren Personalpools auch schwerer, alle Themenbereiche abdecken zu können. In Folge sehen sich die Minibewegungen oftmals veranlasst, Bündnisse zu gründen, um aktiver auftreten zu können. Die Sperrklausel gewährleistet also auch eine gewisse Größe eines Klubs, der sinnvoll arbeiten kann.

Besonders schwierig gestaltet sich die Regierungsbildung, wenn viele Parteien im Parlament vertreten sind. Mehrheiten zu finden wird dadurch eine Herausforderung. Ist der Nationalrat in viele Fraktionen zersplittert, bräuchte es zudem mehr Parteien für eine Regierung als bisher, um mehrheitsfähig zu sein. In den Niederlanden sitzen beispielsweise vier Parteien auf der Regierungsbank.

Schwierige Koalitionsbildung

In Österreich gilt traditionell schon eine Dreierkoalition im Bund als nahezu unmöglich. Bislang regierten in der Zweiten Republik nur maximal zwei Parteien gemeinsam auf Bundesebene. Wird die Vier-Prozent-Hürde gesenkt, macht es die ohnehin schon schwierigen Koalitionsverhandlungen noch eine Stufe komplizierter. Langwierige Gespräche zwischen den Parteien stünden nach einer Nationalratswahl monatelang auf der Tagesordnung.

Zudem ist eine Vielparteienregierung instabiler – springt ein Koalitionspartner ab, könnte die Mehrheit im Parlament verloren gehen und per Misstrauensvotum aus dem Amt gehoben werden. Instabile Regierungen haben auch mehr Neuwahlen zur Folge. Schon jetzt gibt es großes Misstrauen in die Politik, ständige Regierungswechsel und regelmäßige Krisen, und daraus folgende Neuwahlen könnten die Politikverdrossenheit noch weiter verstärken. Die aktuelle Vier-Prozent-Hürde sorgt somit auch für klarere Verhältnisse nach einer Nationalratswahl.

Nein, es braucht sie nicht.

Nur weil eine Regelung schon lange besteht, heißt das nicht, dass sie auch gut ist. Würde man heute ein völlig neues Wahlsystem konstruieren – wäre die Vier-Prozent-Hürde noch Teil davon? Einiges spricht dagegen.

Neue politische Bewegungen haben es in Österreich ohnehin besonders schwer. Die alteingesessenen Parteien haben große Apparate, erhalten hohe Förderungen vom Staat und können sich über Regierungsfunktionen profilieren. Aber auch bei Wahlen haben kleine und kleinste Parteien einen erheblichen Nachteil: Selbst überzeugte Wählerinnen und Wähler können sich nicht darauf verlassen, dass die Liste im Parlament vertreten ist. Aus Angst, eine "verlorene Stimme" abzugeben, entscheiden sie sich oft für eine größere Partei – auch wenn diese ihre politische Überzeugung weniger gut abbilden. Die bittere Ironie für neue Bewegungen: Womöglich hätten sie die vier Prozent locker geschafft, wenn es die Hürde nicht gäbe und sich ihre Fans darauf verlassen können, dass ihre Stimme zählt.

Das ist ein Problem in einer Demokratie, die darauf aufbaut, dass Parteien die politischen Ansichten ihrer Wählerinnen und Wähler ins Parlament tragen. Noch dazu arbeitet die Einzugshürde gegen einen der wichtigsten Grundsätze dieser Demokratie: Jede Stimme zählt gleich. Das österreichische System erfüllt dieses Ziel im Großen und Ganzen sehr gut: Die Mandate der im Nationalrat vertretenen Parteien "kosten" in etwa gleich viele Stimmen. Aber die Stimmen für eine Partei, die nur 3,9 Prozent erhält, zählen gar nicht.

Meinungsvielfalt abbilden

Die Vier-Prozent-Hürde hält die österreichische Parteienlandschaft also stabil, und man könnte argumentieren: zu stabil. Denn die Gesellschaft wird zunehmend divers. Minderheitenmeinungen finden über das Internet schneller zusammen, es gibt immer weniger Stammwählerinnen und Stammwähler. Das sollte auch im Parlament abgebildet sein. Wenn kleine Parteien mit einem starken Fokus auf einzelne Themen etwa mit ein paar Sitzen im Parlament vertreten sind, ist die Meinungsvielfalt besser abgebildet.

Der Sorge vor einer Zersplitterung des Parteiensystems kann entgegengewirkt werden. Auf ein Mandat kamen bei der letzten Nationalratswahl rund 25.000 Stimmen, das ist schon eine relevante Größe, die nicht viele Parteien erreichen können. Auch ohne Hürde werden also nicht dutzende Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer im Parlament sitzen. Ansammlungen von Miniparteien gibt es vorrangig in Ländern, in denen ein Ausgleich zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen gefunden werden muss – das ist in Österreich nicht der Fall. Und selbst wenn es plötzlich ganz viele Parteien geben würde, würden sich diese dann höchstwahrscheinlich wie in anderen Ländern schon vor der Wahl zu Blöcken zusammenfinden. Ein Ende der Benachteiligung von Kleinparteien hätte also keinen Kollaps der Demokratie zur Folge. (Max Stepan, Sebastian Fellner, 22.4.2024)