"Niemand kümmert sich um die Baukultur auf dem Land. Dabei gibt es ...

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... bei genauerem Hinsehen viele Gemeinden, die mit unglaublichem Elan ...

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... Unmögliches vollbringen". Gebäudefotos vom neuen Dorfkern ...

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... Lüchows: Schule, Gemeindehaus, Werkstättenhaus.

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Architekt und Planer Johannes Liess: "Ich träume von umgekehrter Globalisierung."

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Vor zehn Jahren zog Architekt Johannes Liess von Wien nach Norddeutschland, ins fast ausgestorbene Lüchow. Seine Mission: Dorfrettung.

STANDARD: Vor zehn Jahren kehrten Sie der Stadt den Rücken und zogen in ein Dorf mit fünf Einwohnern. Warum?

Liess: Wir hatten in Lüchow schon seit einigen Jahren ein Ferienhaus, in dem wir unsere Sommer verbracht haben. Eines Tages haben wir beschlossen, hierher zu ziehen und im Urlaub zu bleiben. Permanent Vacation sozusagen.

STANDARD: Würden Sie sich als Aussteiger bezeichnen?

Liess: Ganz im Gegenteil. Wir haben ja nicht aufgehört zu arbeiten, um ab dem Tag X nur noch im Gemüsebeet zu stöbern und Karotten zu ziehen. Wir hatten die Vision, Lüchow zu beleben und wieder neu zu besiedeln.

STANDARD: Mit welchen Mitteln?

Liess: Das Wichtigste für jede Siedlungsstruktur ist eine Schule. Als wir 2003 nach Lüchow gezogen sind, waren gerade mal drei Häuser bewohnt, und zwar von fünf Rentnern. Das Dorf war kurz vorm Aussterben. Mit der Schule ist es gelungen, Jungfamilien nach Lüchow zu locken. Heute hat Lüchow 42 Einwohner. Die Hälfte davon sind Kinder.

STANDARD: 2006 wurde die Schule gegründet, 2011 wurde Ihnen die Betriebserlaubnis entzogen. War­um?

Liess: Das ist ein Politikum. Der Staat will das Schulsystem zentralisieren. Da passen Privatschulen auf dem Land nicht ins Konzept, weil man sie dann nicht mehr kontrollieren kann. In den letzten Jahren wurden in Mecklenburg-Vorpommern insgesamt acht Privatschulen geschlossen. Es sind vor allem die kleinen Schulen, die einen Schließungsbescheid erhalten. Die Lage ist dramatisch.

STANDARD: Wie geht's weiter?

Liess: Wir haben uns einen Anwalt genommen und geklagt. Wenn alles gutgeht, werden wir nächstes Jahr wieder unterrichten können.

STANDARD: Ihr Buch "Artgerecht ­leben. Von einem, der auszog, ein Dorf zu retten"  liest sich wie eine Ode an Mutter Natur, fast ein bisschen naiv, wenn Sie von herum­irrenden Mammuts und heulenden Wölfen erzählen. Ist wirklich alles so toll auf dem Land?

Liess: Mit kleinen Kindern ist es sogar sehr toll. Doch das Beste ist: Wir führen ein eigenverantwortliches Leben. Wir gestalten unsere Umwelt nach unserem eigenen Geschmack und nach unseren eigenen Vorstellungen. Wo kann man das schon?

STANDARD: Und die Infrastruktur?

Liess: Infrastruktur bedeutet für mich, dass das Dorf funktioniert und dass man sich selbst versorgen kann. Ein gutes Leben auf dem Land muss möglich sein, ohne regelmäßig in die Stadt zum Arbeiten oder zum Einkaufen fahren zu müssen. Bei uns in Lüchow gibt es einen kleinen Dorf­laden, in dem man das Wichtigste für den Alltag einkaufen kann, wir haben eine Gärtnerin, die uns mit Obst und Gemüse versorgt, es gibt ein Gemeinschaftshaus, und kommenden Sommer werden wir ein Hotel beziehungsweise Gästewohnhaus realisieren. Und was mich besonders freut: Es gibt im Dorf keinen einzigen Arbeitslosen. Jeder hat einen Job.

STANDARD: Sie sind Architekt. Wovon leben Sie?

Liess: Vor Ort gibt es nur wenig zu tun. Davon könnte ich nicht leben. Ich habe Projekte in Berlin und Hamburg sowie in größeren Städten in Mecklenburg-Vorpommern.

STANDARD: Wie weit entfernt liegt die nächste größere Stadt?

Liess: Das ist Rostock. Circa 60 Kilometer.

STANDARD: Sie fahren also viel mit dem Auto.

Liess: Das ist unvermeidlich. Leider gibt es keinen öffentlichen Verkehr. Wir sind auf Individualverkehr angewiesen. Aber wir haben Car-Sharing im Dorf. Immerhin.

STANDARD: Die Erhaltungskosten abgelegener, dünnbesiedelter Strukturen sind sehr hoch. Kann oder soll sich das die öffentliche Hand überhaupt noch leisten?

Liess: Alles nur eine Frage der Organisation. Wenn man schon über Amazon und Zalando auf einen Klick Einkäufe erledigen kann, warum dann nicht auch Verwaltung und Behördenwege? Und was die Hardware betrifft: Wir haben Schotterstraßen, das reicht, das Trinkwasser kommt aus ei­nem kleinen Brunnen im Nachbardorf, Gas gibt es nicht, für die Stromverlegung sind wir selbst aufgekommen, das Abwasser wird bei uns im Dorf in einer selbst­gebauten Pflanzenkläranlage gereinigt, und was die Müllabfuhr betrifft, so reicht es, wenn man doppelt so große Container aufstellt und die Müllabfuhr halb so oft fährt. Dann kostet das keinen Cent mehr. Man muss nur wollen.

STANDARD: Gegenfrage: Was ist denn so schlimm daran, wenn Dörfer wieder von der Landkarte verschwinden? Wachstum und Schrumpfung sind natürliche Dynamiken, seit es menschliche Besiedelungskultur gibt.

Liess: Gar nichts ist schlimm dar­an! Ich habe nichts gegen natürliche Schrumpfung. Ich habe nur etwas dagegen, dass in weiten Teilen Ostdeutschlands ganze Landstriche infrastrukturell ausgetrocknet werden, und zwar künstlich und mit politischem Nachdruck. Von mir aus können auch zehn Dörfer verschwinden, wenn auch nur eines übrig bleibt, das funktioniert.

STANDARD: Weil?

Liess: Es ist wichtig, dass eine ­minimale Bevölkerungsdichte im ländlichen Raum erhalten bleibt. Nur so kann eine Gesellschaft aufrechterhalten werden. Andernfalls bleibt die Frage zu klären: Was machen wir mit unserem Land? Überlassen wir es sich selbst? Oder verhökern wir es an ein paar Agrarkonzerne? Ist das die Zukunft des Landlebens? Das wäre eine Entwicklung mit fatalen ­agrarpolitischen und wirtschaft­lichen Folgen.

STANDARD: 2050 werden 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Wie geht es Ihnen mit dieser Prognose?

Liess:  Ich finde das okay.

STANDARD:  Ihr Traum für die Zukunft?

Liess: Mein größter Wunsch wäre, dass die Politik die Menschen dar­in unterstützt, ihre Initiativen und Visionen eigenhändig umzusetzen. Ich träume von umgekehrter Globalisierung. Ich träume von einem Dorf, das sich selbst genug ist. (Wojciech Czaja, DER STANDARD, 25./26.5.2013)