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Die britische Hauptstadt erwacht aus einer unruhigen Nacht.

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Die Polizei ermittelt am Tatort im Zentrum Londons.

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Menschen nehmen Anteil am Schicksal der Opfer.

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Die Polizei verstärkte ihre Präsenz im Zentrum Londons.

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London – Im Palast von Westminster und den angrenzenden Parlamentsbüros rufen am Mittwochnachmittag gegen 14.40 Uhr gerade die Glocken zu einer Abstimmung, als sich bedrohliche andere Geräusche ins Geklingel mischen. "Unverkennbar Schüsse", hört Torcuil Crichton, Parlamentskorrespondent des schottischen Boulevardblatts "Daily Record", in seinem Büro. Sein Kollege Paul Waugh von der "Huffington Post" sieht beim Blick aus dem Fenster zwei Männer auf dem Boden liegen.

Es ist der Höhepunkt und, wie zu diesem Zeitpunkt noch niemand weiß, auch das Ende eines blutigen Angriffs, der an diesem 22. März, dem ersten Jahrestag der Anschläge von Brüssel, das Herz der britischen Hauptstadt in Angst und Schrecken versetzt. Vier Tote, darunter der Attentäter, und mindestens 29 teils lebensgefährlich Verletzte bilanziert Scotland Yard am Donnerstagmorgen. Der für Terrorbekämpfung zuständige Abteilungsleiter von Scotland Yard, B. J. Harrington, spricht von einem "Terroranschlag". Bis tief in die Nacht hinein patrouillierten hunderte Polizisten, viele von ihnen bewaffnet, durch die Innenstadt von London.

Pressestatement der Londoner Metropolitan Police.

Wohnung in Birmingham gestürmt

In der Nacht stürmten bewaffnete Polizisten sechs Wohnungen in Großbritanniens zweitgrößter Stadt Birmingham. Die Polizei hat inzwischen bestätigt, dass der Einsatz im Zusammenhang mit dem Terroranschlag in London steht. Sieben Personen wurden demnach festgenommen.

Londons Bürgermeister Sadiq Khan: Die Londoner werden sich niemals von Terror einschüchtern lassen.

Erst kürzlich Übung

Erst kürzlich hatten die Geheimdienste mitgeteilt, sie hätten in den vergangenen anderthalb Jahren rund ein Dutzend mögliche Anschläge vereitelt. Am vergangenen Wochenende übte die Londoner Polizei bei einer spektakulären Antiterroraktion einen Einsatz. Dabei ging es um einen simulierten Angriff auf ein Passagierboot auf der Themse. Die Terrorgefahr bleibe akut, die Bevölkerung solle wachsam sein.

Was aber hilft gegen einen Einzeltäter, der einen Hyundai-Geländewagen zur Waffe macht? Von der Westminster Bridge aus haben Touristen den schönsten Blick aufs britische Parlament, der Gehsteig ist tagsüber fast immer vollbesetzt. So auch an diesem Mittwochnachmittag. Der Amokfahrer lenkte am Südende der Brücke sein Fahrzeug auf den Gehsteig und mähte reihenweise die Passanten um. Unter den Opfern sind französische Touristen und drei Polizisten, die von einer Ehrung zu ihrer Wache zurückkehrten. Auch fünf Touristen aus Südkorea sowie zwei Besucher aus Rumänien wurden bei dem Anschlag verletzt.

Aus Themse gerettet

Mindestens eine Passantin versuchte sich durch einen Sprung in die Themse zu retten, sie wurde später verletzt geborgen. Auf dem Asphalt blieben die Verletzten zurück. Das nahe gelegene St.-Thomas-Krankenhaus bestätigte später den Tod einer eingelieferten Frau, mehrere andere hätten "katastrophale Verletzungen" erlitten.

Foto: Standard

Unterdessen hatte der Attentäter die Nordseite erreicht und fuhr am Parlamentszaun entlang. Plötzlich riss er das Steuer nach links und setzte sein Gefährt gegen einen Pfeiler. Zu Fuß eilte er weitere 200 Meter am Zaun entlang – bis zu dem Eingang, wo Abgeordnete mit dem Auto auf den Hof des Westminster-Palastes fahren können. Zwar stehen dort Sicherheitsbeamte. Doch dem Täter gelang es, an ihnen vorbei über eine Sperre zu springen. Mit zwei Messern ging er auf einen Polizisten los, stach ihn nieder, kam selbst zu Fall. Er rappelte sich auf, rannte auf den Parlamentshof zu – da streckten ihn mindestens drei Schüsse aus Polizeipistolen nieder.

Es sind die Geräusche, an die sich Journalist Crichton drei Stunden später beim Privatradio Monocle erinnert. "Ich rannte hinunter. Da schwärmten schon bewaffnete Beamte aus und beorderten uns zurück in unsere Büros. Das wirkte wie ein gut geübter Drill." Premierministerin Theresa May wurde von ihren Bodyguards in die nahe gelegene Downing Street gefahren, wo sie später eine Sitzung des Krisenstabs Cobra leitete.

Erste Hilfe für Beamten

Die zur Abstimmung hastenden Abgeordneten sahen sich plötzlich Polizisten mit MPs gegenüber. Mehrere Volksvertreter, darunter auch sie selbst, seien mit vorgehaltener Waffe in einen Abstimmungsraum gebracht worden, berichtete die Konservative Anna Soubry. Einige versuchten zu helfen. Außenstaatssekretär Tobias Ellwood, ein früherer Offizier, begann Mund-zu-Mund-Beatmung bei einem schwer verletzten Beamten, ehe herbeigeeilte Sanitäter übernahmen. Doch für das letzte Opfer des Amokläufers kam jede Hilfe zu spät, wie für den Täter selbst auch.

Flaggen auf Halbmast.

Weiträumig sperrten die Beamten von Scotland Yard das Gelände rund um den Palast von Westminster ab, der Autoverkehr im Regierungsviertel kam zum Erliegen, die U-Bahn-Station Westminster wurde gesperrt. Touristen mussten stundenlang auf dem Riesenrad London Eye ausharren, das aus Sicherheitsgründen angehalten wurde.

Im Plenarsaal hatte unterdessen Vize-Speaker Lindsay Hoyle die Debatte unterbrochen. "Wir folgen damit dem Rat der Sicherheitsbehörden", sagte der für die Gesetzgebung zuständige Minister David Lidington den Abgeordneten. Stundenlang blieben diese zusammen, bis sich die Polizei ganz sicher war: Es handelte sich um einen Einzeltäter. Augenzeugen beschreiben ihn gegenüber dem TV-Sender Sky als asiatischer Herkunft im Alter zwischen 30 und 40 Jahren.

Expertenstreit über Etikettierung

Noch am Abend begann unter Experten ein Streit darüber, ob die Kennzeichnung des Attentats als "Terroranschlag" gerechtfertigt sei. Die vorschnelle Etikettierung durch Scotland Yard sei "ein Skandal", befand Phil Clark, Professor für Internationale Politik an der Londoner SOAS-Universität, und zog einen Vergleich mit dem Mordanschlag auf die Labour-Abgeordnete Joanne Cox im Juni vergangenen Jahres.

Damals hatten die Behörden auf dem Höhepunkt des Brexit-Referendumskampfes wochenlang gezögert, den rechtsextremen Mörder als Terroristen zu bezeichnen. Islamistische Gewalttäter terrorisierten die britische Hauptstadt zuletzt im Mai 2013. Damals töteten zwei junge Briten einen Soldaten in Zivil, Lee Rigby, vor dessen Kaserne im Ostlondoner Stadtteil Woolwich. (red, Sebastian Borger aus London, 23.3.2017)