Den Marsch verweigern?

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Nach dem Tod eines Rekruten in Horn ermitteln Staatsanwaltschaft und zwei Kommissionen.

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Am 2. August 2017 starb in Horn ein 19-jähriger Rekrut an den Folgen eines Herzstillstandes, der durch eine Überhitzung des Körpers ausgelöst wurde. Die verantwortlichen Ausbilder des österreichischen Bundesheeres hatten sich dazu entschlossen, mit den im ersten Ausbildungsmonat befindlichen Grundwehrdienern bei Temperaturen von 36 Grad Celsius einen Marsch durchführen zu lassen.

Auf Grundlage des Militärstrafgesetzes wäre es dem Rekruten nicht gestattet gewesen, die Fortsetzung des Marsches zu verweigern: Wer einen Befehl nicht befolgt, indem er trotz Abmahnung in Ungehorsam verharrt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen. So lautet Paragraf 12 Absatz 1 Ziffer 2 des Militärstrafgesetzes. Den verstorbenen Rekruten traf daher bei sonstiger gerichtlicher Strafbarkeit die gesetzliche Verpflichtung, den Marsch fortzusetzen.

Ungehorsam und Befehlsverweigerung

Die Nichtbefolgung von Befehlen bleibt in Ausnahmefällen straflos. Zum Beispiel, wenn der zugrunde liegende Befehl gegen die Menschenwürde verstößt. Der Gesetzgeber nennt als Beispiele lediglich Fälle, in denen Befehlsempfänger durch den Befehl als Angehörige eines minderwertigen oder wertlosen Teils der Gesamtbevölkerung dargestellt würden.

Auch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist ernüchternd: So gelten Schieben und Stoßen zur Überwindung eines passiven Widerstands oder das Hinunterstoßen über eine Böschung nicht als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Gleiches wird demnach auch für den bloß verbalen Befehl an Rekruten gelten, bei überdurchschnittlich hoher Sommerhitze einen Marsch zu absolvieren. Selbst das "Vorantreiben" durch Schieben und Stoßen scheint in Übereinstimmung mit der verfassungsrechtlichen Judikatur unproblematisch.

Bei Sorge um eigenen Gesundheitszustand?

Auch die Verweigerung eines Befehls, der die Begehung einer gerichtlich strafbaren Handlung anordnet, bleibt straflos. Etwa die Verweigerung, einen anderen Rekruten am Körper zu verletzen. Das gilt nicht für die eigene körperliche Unversehrtheit. Die Gefährdung der eigenen Gesundheit stellt keine gerichtlich strafbare Handlung dar. Bei Verweigerung eines Befehls zugunsten der eigenen Gesundheit kommt Straflosigkeit daher nicht infrage.

Ob der Rekrut bei ernsthafter Sorge um den eigenen Gesundheitszustand – er sprach vor seinem Zusammenbruch von Übelkeit und Schwindel – von der Unterbrechung des Marsches entschuldigt gewesen wäre, ist unklar. Gemäß Paragraf 4 des Militärstrafgesetzes entschuldigt Furcht vor persönlicher Gefahr eine Tat (konkret: den Ungehorsam zur Fortsetzung des Marsches) nicht, wenn es die soldatische Pflicht verlangt, die Gefahr zu bestehen.

Gesetzgeber ist gescheitert

Der Gesetzgeber führt dazu in seinen Erläuterungen aus dem Jahr 1970 aus: "Freilich ist es auch ein allgemein anerkannter Grundsatz, dass sich auf Notstand nicht berufen kann, wer aus besonderen Gründen, insbesondere durch seinen Beruf, verpflichtet ist, die Gefahr zu bestehen, doch will der Entwurf diesen Grundsatz – im Hinblick auf die besondere Bedeutung für das Militärstrafrecht – noch ausdrücklich hervorheben und alle allenfalls in dieser Richtung auftauchenden Zweifelsfragen von vornherein beseitigen."

Der Gesetzgeber ist in dieser Beseitigung von Zweifelsfragen grandios gescheitert. Denn er setzt fort: "Damit soll aber nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass der Soldat in allen Fällen zur ausnahmslosen Selbstaufopferung seiner Person verpflichtet ist." In der Rechtswissenschaft herrscht Uneinigkeit über die Bedeutung dieser unglücklichen Gesamtformulierung. Ich befürchte, dass der Gesetzgeber lediglich zum Ausdruck bringen wollte, dass Soldaten in aussichtslosen Gefechtssituationen – so selbstverständlich wie es nach zwei Weltkriegen nur sein kann – die Möglichkeit zur Kapitulation offensteht. Der Wille, dass die Verweigerung von gesundheits- oder gar lebensgefährdenden Befehlen während der Grundausbildung damit entschuldigt werden sollten, dürfte nicht umfasst sein. Die Gerichte waren mit dieser Rechtsfrage bisher nicht befasst.

Keine rechtlichen Möglichkeiten

Im Ergebnis stehen Grundwehrdienern keine rechtlichen Möglichkeiten offen, sich einem Marsch unter jenen Bedingungen, wie sie am 2. August 2017 geherrscht haben, ohne Gefahr gerichtlicher Verfolgung zu widersetzen. Umgekehrt muss ein militärischer Vorgesetzter strafrechtliche Konsequenzen aus der Vernachlässigung seiner Obsorgepflicht, die ihn in seiner Funktion trifft, erst fürchten, wenn zu einer schweren Körperverletzung, einer Körperverletzung mit Dauerfolgen oder dem Tod eines Soldaten kommt. Leichte Körperverletzungen sind völlig unbeachtlich. Im schlimmsten Fall droht Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren (Paragraf 33 Absatz 1 Militärstrafgesetz). Schlimmer würde es hingegen Soldaten treffen, die sich in Gemeinschaft weigern, einen Befehl auszuführen: Die Strafdrohung beträgt dann sechs Monate bis fünf Jahre (Paragraf 14 Militärstrafgesetz: "Schwerer Ungehorsam"). Das Verweigern eines Ausbildungsmarsches wiegt also schwerer als der Tod eines jungen Menschen.

Der Fall Wandl 1974

Am 15. August 1974 starb der damals 18-jährige Wehrdiener Kurt Wandl an den Folgen eines Hitzschlages, nachdem er beim Strafexerzieren zusammengebrochen war. Die Politik zeigte sich empört, es geschah jedoch nichts. Anlässlich einer Debatte über die Zukunft des österreichischen Bundesheeres wurde am 20. Jänner 2013 eine Volksbefragung zur Wehrpflicht durchgeführt. 59,7 Prozent der Stimmberechtigten – bei einer Wahlbeteiligung von 52,4 Prozent – sprachen sich für die Beibehaltung der Wehrpflicht aus. Die Politik sah sich damit aus der Verantwortung; in der zweifachen Fiktion, eine Mehrheit der Wahlbeteiligten hätte sich für die Beibehaltung des Status quo ausgesprochen. Abermals geschah nichts.

Ist die Politik nicht Willens oder in der Lage, die seit Jahrzehnten erforderlichen Reformen im Bereich der Wehrpflicht und des Bundesheeres herbeizuführen, liegt es an den Bürgern, Fakten zu schaffen. Der juristische und menschliche Rat an die kommenden Generationen junger Wehrpflichtiger kann daher nur lauten, geschlossen dem Grundwehrdienst den Rücken zuzuwenden und sich für den Zivildienst zu entscheiden. Auf andere Weise sind der Politik offenbar nicht die Augen zu öffnen. (Andreas Reiff, 10.8.2017)