MIA-SAN-MIA oder MEA OIS WIA MIA? Das Motto Österreichs auf der Leipziger Buchmesse regt zum Nachdenken über die Identität an.

Foto: APA/ERWIN SCHERIAU

Eine Kolumne ist eine Kolumne, stimmt’s, oder habe ich recht? Ein Satz wie dieser wäre dem französischen Philosophen, Essayisten und Semiologen (vulgo Zeichenforscher) Roland Barthes (1915–1980) vermutlich gegen den Strich gegangen. In seinem Buch Mythen des Alltags (fr. Mythologies) aus dem Jahr 1957 entzifferte Barthes in einer Sammlung von witzigen und klugen Kurzessays geheime ideologische Bedeutungen, die sich in scheinbar bedeutungslosen Alltagsphänomenen verstecken.

Philosophische Pommes

Aus dem, was es im Frankreich der 1950er so alles gab und en vogue war, hat Barthes zum Beispiel Sandalenfilme (B-Movies mit "antiken" Stoffen), einen Auftritt des US-Predigers Billy Graham in Paris oder die populäre Speisenkombination von Beefsteak und Pommes frites zur analytischen Durchdringung auserkoren. Das Steak, Inbegriff des blutgetränkten Fleisches, gewinnt laut Barthes sein Prestige aus der Vorstellung, dass seine tierische Kraft auf alle übergeht, die es verzehren. Aber auch eine hochpatriotische Komponente ist dem Steak frites eigen: Es gibt keine Speise, in der sich die "Französität" klarer offenbart (so wie sich heute "das Niederösterreichische" nur in Speisen manifestieren kann, die den Geruch der heimatlichen Scholle verströmen).

Sehr kritisch setzt sich Barthes auch mit Sätzen vom Typus "Ein Sous ist ein Sous", "Racine ist Racine" etc. auseinander. Solche tautologischen Behauptungen sieht er als aggressive verbale Anschläge auf Intelligenz und Intellektualität. Die Tautologen, meint er in einem schönen Bild, halten ihre Gedanken "an der Leine" wie Hunde, damit sie ihnen nicht in die Freiheit weglaufen.

Anti-MIA-SAN-MIA

In Österreich heißt die klassische nationalistische Tautologie "MIA SAN MIA", eine Identitätsbehauptung, die sich selbst genügt und deren Sinn es ist, sich abzuschließen und scharf nach außen hin abzugrenzen. Das Motto, mit dem sich Österreich auf der Leipziger Buchmesse präsentiert – die MIA-SAN-MIA-Variation MEA OIS WIA MIA –, erscheint mir als ein Anti-MIA-SAN-MIA, als eine Aufforderung zur Öffnung, zum Nachdenken, zur Befreiung von jeder rabiaten Selbstbezüglichkeit. Roland Barthes hätte das gefallen. (Christoph Winder, 22.4.2023)