John Joseph Adams: "Cosmic Powers. The Saga Anthology of Far-Away Galaxies"
Broschiert, 352 Seiten, Saga Press 2017, Sprache: Englisch
Für viele Leser ist Science Fiction weitgehend identisch mit Space Opera und Sense of Wonder. Und auch wenn es sich dabei nur um eine Variante des Genres von vielen handelt, ist es doch eine überaus beliebte. Wer gerne mehr davon hätte, für den ist diese Sammlung ein ausgezeichneter Tipp: John Joseph Adams, der wohl anerkannteste Herausgeber von SF-Anthologien zur Zeit, hat eine beeindruckende Liste von Autoren versammelt, die seit langem beliebt, für ihre hohe Qualität bekannt oder gerade en vogue sind (das muss nicht unbedingt dasselbe sein ...). Das Ergebnis ist eine deutlich überdurchschnittliche Anthologie, die Appetit auf mehr weckt.
Einige der Beitragenden sind bereits Stars im englischsprachigen Raum, haben es aber noch nicht zu deutschen Übersetzungen gebracht. Die perfekte Gelegenheit also, sich auch mit Autoren, die man vielleicht noch nicht kennt, vertraut zu machen und sich dann – vorausgesetzt die jeweilige Schreibe spricht einen an – auf deren längere Werke zu stürzen.
Die ersten zwei Appetithappen
Zwei gute Beispiele wären Yoon Ha Lee und Kameron Hurley: beide in SF-Blogs stark gehypt und für Preise nominiert, beide mit schreiberischer Substanz ausgestattet und beide bereits auf eine Reihe von Werken zurückblickend, auf Deutsch bislang aber nicht präsent. Dass sowohl Lees Anthologie-Beitrag "The Chameleon's Gloves" als auch Hurleys "Warped Passages" inhaltlich jeweils mit bereits vorliegenden Romanen verbunden sind, macht sie endgültig zu guten Appetizern.
Lee entspinnt ein Abenteuergarn um ein menschliches "Chamäleon", das einer desertierten Generalin eine Superwaffe abknöpfen soll, und demonstriert dabei dynamische Schreibe. Ein Blick auf Lees "Machineries of Empire"-Trilogie und deren Mix aus galaktischen Imperien, Intrigen, Action und vollkommen unverständlicher Hochtechnologie dürfte sich also lohnen. Hurley liefert hier eine ergänzende Episode zu ihrem Roman "The Stars Are Legion" ab, in dem eine Raumflotte im Nichts gestrandet ist und durch das rätselhafte Phänomen, das sie festhält, einer fortschreitenden Metamorphose unterzogen wird – Anflüge von Body Horror inklusive. Dass Hurley ausschließlich weibliche Figuren verwendet, liest sich zum Glück nicht so krampfig gewollt, wie es eigentlich ja ist.
Warum in die Ferne schweifen ...
Während sich Lee und Hurley in Sachen Technik mit Handwaving-Erklärungen begnügen, zeigt Linda Nagata nach ihrer famosen "Red"-Trilogie einmal mehr, dass man Sense of Wonder auch erzeugen kann, ohne die Gesetze der Physik zu verletzen und durch die halbe Galaxis zu fliegen. Die "Neuntausend Welten" ihrer Kurzgeschichte "Diamond and the Worldbreaker" kreisen nämlich allesamt um unsere gute alte Sonne. Eine Künstliche Intelligenz hat die Orbits der unzähligen Weltraumhabitate fein austariert ... ebenso wie die menschliche Gesellschaft als Ganzes. Denn Machina Overlord fördert kleine Terroristengruppen als Chaos-Elemente, damit das Zukunftsutopia nicht stagniert. Nagatas Protagonisten finden sich daher einmal mehr in einem faszinierenden und schwer zu durchschauenden Spiel wieder.
Auch Karl Schroeder bleibt in "Golden Ring" in der näheren kosmischen Umgebung und zugleich in der Welt seines großartigen Romans "Lockstep". In "Lockstep" hat man eine verblüffend einfache Methode gefunden, die galaktische Nachbarschaft zu kolonisieren, ohne schneller als das Licht zu fliegen (nachlesen, wer den Roman noch nicht kennt!). In "Golden Ring" erhält nun eine der Lockstep-Welten Besuch der besonderen Art: Die KI der fernen Sonnenstation, die den Planeten per Laser mit Energie versorgen sollte, hat einen Avatar geschickt, den das schlechte Gewissen plagt ... immerhin ist die KI ihrer Pflicht eine Zeitlang nicht nachgekommen und die Welt ist vereist.
Die Beschreibungen des nun langsam wieder auftauenden Planeten würden schon alleine reichlich Sense of Wonder verbreiten, aber das war Schroeder nicht genug. Die Arbeitsverweigerung der Kunstsonne war nämlich die Folge eines Schocks, als sie und ihre "Artgenossen" eine erschreckende Wahrheit über das Wesen des Universums entdeckten. Ein Highlight der Anthologie!
Oxymoron-Alarm: Seichte Tiefpunkte
Natürlich findet sich selbst in einer so gelungenen Geschichtensammlung wie "Cosmic Powers" auch das Gegenteil. Für Lowlights sorgen zwei zurzeit ebenfalls sehr gehypte Autorinnen. Charlie Jane Anders liefert mit "A Temporary Embarrassment in Spacetime" ein vielleicht als Parodie gemeintes plastikbuntes Stück Neo-Pulp ab, das mit seinem albernen Humor wohl auf das gleiche Teenie-Publikum abzielt wie "The Deckhand, the Nova Blade, and the Thrice-Sung Texts" von Becky Chambers. Deren Erzählstil Marke Highschool-Geplapper löst in mir einmal mehr nur Sense of Annoyance aus. Ihr Erfolgsroman "Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten" ist seinerzeit teilgelesen und unrezensiert im Altpapier gelandet (sollte ihn jemand in der Rundschau vermisst haben).
Während ich Chambers für die nächsten Jahre abgeschrieben habe, könnten zwei andere noch weitgehend unbekannte Autorinnen Potenzial haben. Caroline M. Yoachim entwirft in "Seven Wonders of a Once and Future World" in aller Kürze eine posthumane Future History, die Milliarden Jahre in die Zukunft reicht. Und Vylar Kaftan lässt in "The Sighted Watchmaker" ein – gemessen an Intelligenz und Technologie-Level – gottgleiches Wesen seinem Alltagsjob Evolutionslenkung nachgehen, während es darüber grübelt, warum es von seinen Schöpfern verlassen wurde: alte religiöse Fragen verquickt mit einem Uplift-Szenario.
Yoachim und Kaftan haben bislang nur ein paar Kurzgeschichten vorgelegt. Von Aliette de Bodard gibt es hingegen bereits ein umfangreiches Werk, für das ihr poetischer Anthologie-Beitrag "The Dragon That Flew Out of the Sun" recht repräsentativ ist. Die französisch-amerikanische Autorin entwirft gerne alternative Welten, in denen asiatische oder mesoamerikanische Kulturen vorherrschend sind. Das kann dann als Fantasy oder wie hier als Science Fiction umgesetzt werden, zumindest formal. Denn vom Gefühl her liest sich auch diese Geschichte, erzählt aus der Perspektive eines Kindes, eher fantasyesk. Pure Fantasy, Weltraum hin oder her, liefern übrigens gleich mehrere Autoren ab. Das wäre bei einer Anthologie mit einer solchen Prämisse vor zehn Jahren wohl noch nicht der Fall gewesen, und ein paar Hard-SF-Beiträge mehr hätten "Cosmic Powers" durchaus gutgetan.
Neue Seiten alter Hasen
Zu entdecken gibt es dafür noch etwas anderes: nämlich wohlbekannte und auch auf Deutsch vielfach verlegte Autoren, die sich einmal von einer anderen Seite zeigen. Das gilt weniger für Altspatz Alan Dean Foster, der mit "Our Specialty is Xenobiology" nicht unbedingt die Grenzen des Vorstellbaren sprengt (Typ: Prospektoren erkunden ein Alien-Raumschiff). Aber zum Beispiel für Dan Abnett: Bekannt hauptsächlich über Comics und "Warhammer"-Romane, liefert er hier mit "The Frost Giant's Data" eine süffig zu lesende Erzählung ab, deren Protagonist eine Festung stürmen muss, die er selbst konstruiert, dann aber eigenständiger Weiterentwicklung überlassen hat. Von Technikscheu keine Spur, das ist eine beeindruckende Materialschlacht.
Eine positive Überraschung beschert auch Jack Campbell, eigentlich Spezialist für Endlos-Abenteuerreihen wie "Die verlorene Flotte". Sein "Wakening Ouroboros" hat eine Dyson-Sphäre am Ende der Zeit zum Schauplatz. Nur noch zwei Menschen, beide Milliarden Jahre alt, bewohnen ihre gigantischen Weiten, der Rest der "Bevölkerung" wird nur noch als virtuelle Requisite eingespielt. An incredibly vast stage built by humanity, but empty of performers: Das erzeugt Sense of Wonder, neben dem Seanan McGuires durchschnittliche Abenteuergeschichte um eine Mini-Dysonsphäre ("Bring the Kids and Revisit the Past at the Traveling Retro Funfair!") gleich noch blasser wirkt.
Geschichte(n) der Zukunft
Zu guter Letzt sei noch Tobias S. Buckell genannt, der in den vergangenen Jahrzehnten zumindest sporadisch ins Deutsche übersetzt worden ist. In seinem "Zen and the Art of Starship Maintenance" hat ein Raumschiffschwarm gerade die feindliche Übernahme eines anderen vollzogen (es wird wirklich halb kriegerisch, halb wirtschaftlich beschrieben), als ein Angehöriger der Siegerseite ungebetenen Besuch von einem Verlierer erhält. Mit diesen beiden treffen zugleich zwei Paradigmen aufeinander: auf der einen Seite posthumane Existenzen mit veränderten Körpern und kopierten Bewusstseinsinhalten, auf der anderen einer, der an der alten und seiner Meinung nach wahren Form des Menschen festhält. In der Erzählung klingen also nicht zuletzt grundlegend unterschiedliche Herangehensweisen innerhalb des Science-Fiction-Genres an.
Abschlussbemerkung: Yes! Endlich mal wieder ein Titelbild von Chris Foss. Seine Raumschiffe, die eher nach Korallenfischen oder philippinischen Jeepney-Taxis aussehen als nach den blitzblanken Dingern, die durch "Star Trek" oder "2001" flitzen, haben mich schon als Kind begeistert. So sieht etwas aus, das im Weltraum wirklich lebt und arbeitet.